die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1975
Text # 81
Theater
Ensemble/Spielort OpenSpace Theatre/Oval House/Freehold Company/People Show/Pip Simmons Theatre Group
Inszenierung/Regie Charles Marowitz/Pip Simmons
Sendeinfo 1975.07.16/SFB

Die Theaterstadt London hat viele Gesichter. Neben den respektgebietenden, hoch subventionierten Großunternehmen – Nationaltheater, Royal Shakespeare Company, Royal Court Theatre, Royal Ballet and Opera – und den vielen kommerziellen Westendtheaterbetrieben gibt es eine kaum noch übersehbare Anzahl kleiner und kleinster Gruppen, von deren Existenz die Öffentlichkeit nur relativ wenig weiß, obwohl sie insgesamt im englischen Theaterleben eine wichtige Rolle spielen.

Für die zahlreichen Kleinbühnen, die am Rande der Londoner Theaterszenerie, artistisch nicht selten im Vorfeld der theatralischen Entwicklung arbeiten, hat sich der Name ‘Fringe Theatre’ eingebürgert, ein Begriff (wörtlich: Theater am Rande), der ebenso vage ist wie das, was er meint, unheitlich und heterogen.

Charles Marowitz, Leiter des Open Space Theatre und seit über zehn Jahren eine der herausragenden Figuren der Londoner ‘Fringe’-Bühnen, hat sich nicht nur als Regisseur und Theaterleiter, sondern auch als vehementer Kritiker des britischen Subventionierungssystems einen Namen gemacht. Der Feldzug, den Marowitz seit Jahren mit bewundernswerter Ausdauer gegen den für die Verteilung öffentlicher Mittel an die Künste zuständigen Arts Counccil führt, hat dazu beigetragen, daß heute die Öffentlichkeit mehr über die Situation der Kleinbühnen weiß, über die Bedeutung ihrer Arbeit und ihre finanzielle Misere, die ihnen nicht mehr als ein Aschenputteldasein gönnt. Marowitz und seinen Kombattanten geht es um die schreiende Ungerechtigkeit, daß der staatliche Arts Council ein paar Mammuttheatern vergleichsweise riesige Summen zur Verfügung stellt und dafür die große Zahl der künstlerisch womöglich produktiveren Kleinbühnen darben läßt.

Die meisten der Fringe Theatre Groups arbeiten nach wie vor mit Schauspielern, die für ihre Leistungen nicht angemessen honoriert werden können, eine Arbeitslosen- oder Fürsorgeunterstützung beziehen und, wenn sie nicht zufällig bei Rundfunk oder Fernsehen eine vorübergehende Nebeneinnahme finden, nur einen kleinen Unkostenbeitrag aus der Abendkasse erhalten. 80 % aller ausgebildeten britischen Schauspieler gelten als arbeitslos.

Marowitz, der vor allem durch seine rigorosen Shakespeare-Bearbeitungen auch im Ausland von sich reden machte, ist einer der wenigen, denen es gelang, vom Arts Council eine Subvention zu bekommen, die die Einrichtung eines kleinen festen Ensembles ermöglichte, eine Grundvoraussetzung produktiver, kontinuierlicher Arbeit, um die die meisten anderen Gruppen bislang vergeblich kämpften.

Einige der kleinen Bühnen haben sich vor allem durch die regelmäßige Vorstellung neuer Stücke bisher wenig bekannter junger Autoren verdient gemacht, andere durch systematische Suche nach zeitgemäßeren Darstellungstechniken. Zu den ersteren gehört das Theatre Upstairs, im Februar 1969 gegründet, eines der ersten Studiotheater in England, das, obwohl künstlerisch und organisatorisch sonst unabhängig geleitet, finanziell von den Zuschüssen, die das Royal Court Theatre erhielt, abhängig war. Vor einigen Wochen erfuhr man, daß das Theatre Upstairs am Ende der laufenden Spielzeit, also im kommenden Herbst, wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten des Royal Court die Arbeit einstellen müsse.

In permanenten finanziellen Krisen, sozusagen stets mit einem Fuß über dem Abgrund, arbeiten seit jeher die sogenannten Lunchtime- und Wirtshausbühnen. Lunchtime-Theater, also jene kleinen Bühnen, die im Unterschied zur üblichen Praxis nicht am Abend, sondern zur Mittagszeit spielen, sowie die in den letzten Jahren wiederauferstandenen Gasthausbühnen leisten durch ihre ständige Suche nach neuen Autoren und Stücken wichtige Pionierarbeit. Vom Arts Council erhalten sie, sobald sie das erste Spieljahr einigermaßen erfolgreich überbrückt haben, einen finanziellen Zuschuß, der normalerweise so klein ist, daß sie kaum etwas damit anfangen können. Denn nur zweieinhalb Prozent der vom Arts Council vergebenen Gesamtsumme fließen den Fringe Theatre Groups im ganzen Lande zu.

Etwas größere regelmäßige Subventionen bekommen nur wenige der Kleinbühnen, die namhaften Organisationen angeschlossen sind, wie das Almost Free Theatre, das zu der gemeinnützigen Vereinigung Inter-Action gehört.

Das Londoner Oval House, ein großes Gemeinschaftszentrum in Südwesten der Stadt, zweigt einen Teil der für verschiedene Aktivitäten verfügbaren Gelder stets für theatralische Projekte ab. Seit Jahren stellt das Oval House experimentierfreudigen Theatergruppen, die ihre Arbeit vor Publikum testen wollen, Probenräume und Bühnen zur Verfügung. Die besten Gruppen der englischen Theateravantgarde haben im Oval House ihre ersten Gehversuche gemacht.

Von den in den letzten Jahren künstlerisch produktivsten und einflußreichsten Fringe Theatre Groups haben sich nach dem Ende der Freehold Company nur die People Show und die Pip Simmons Theatre Group am Leben erhalten. Pip Simmons ist nach zweijähriger Abwesenheit mit seiner Gruppe vor einigen Wochen nach London zurückgekehrt, wo seine neue Inszenierung ‘An die Musik’ wieder zu einem triumphalen Erfolg wurde. Was die Pip Simmons Theatre Group und ihre neun singenden, tanzenden und musizierenden Schauspieler vor allen anderen Theatergruppen in England auszeichnet, ist die Vehemenz ihres politischen Engagements, ihr Formgefühl, ihr artistisches Können, ihre bewundernswert präzise Darstellungstechnik und beispiellose Musikalität. Die Pip Simmons Theatre Group beweist immer wieder, daß politisches Theater möglich ist, wenn man über der guten Absicht nicht die theatralische Idee, für die man sich engagiert, vergißt und dem Publikum Kritik an den Verhältnissen, in denen es lebt, nicht als Pflichtaufgabe nahelegt, sondern als szenisches Vergnügen.

Die People Show , inzwischen ebenfalls international bekannt, ist eine der wenigen Gruppen, die eine Form abstrakten Theaters entwickelt hat. Die People Show liefert poetische Bilder ohne Moral, Spielräume für die Phantasie der Zuschauer, szenische Gedichte, die sich der Interpretation weitgehend entziehen und in eigener Sprache für sich selber sprechen.

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