die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1990
Text # 258
Autor David Edgar
Theater
Titel The Shape of the Table
Ensemble/Spielort National Theatre/London
Inszenierung/Regie Jenny Killick
Uraufführung
Sendeinfo 1990.11.10/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR/RIAS 1990.11.12/SRG Basel 1990.11.13/NDR

‘The Shape of the Table’ (Die Form des Tisches) von David Edgar ist ein erstaunliches Theaterstück. Nicht nur weil es Bezug nimmt auf aktuelle Ereignisse, die noch Gegenwart, kaum schon Vergangenheit sind, und als frühes literarisches Zeugnis über den Zusammenbruch der sozialistischen Länder Osteuropas schon am ersten Jahrestag der Öffnung der Mauer uraufgeführt werden kann (In der Geschwindigkeit des Reagierens auf politische Vorgänge sind die britischen Bühnen den Theatern anderer Länder schon lange um einiges voraus gewesen).

Erstaunlich ist viel mehr auch zu sehen, wie unverkrampft sehr komplexe politische Zusammenhänge vom Theater aufgegriffen und in leicht verfremdeter Gestalt, einer poetischen Konstruktion, so dargestellt werden können, daß wir hinter die Fassaden der Fakten schauen und anfangen, etwas zu verstehen von der Problematik, dem scheinbar unauflösbaren Dilemma konkreter politischer Entscheidungsakte.

Das Stück spielt im November und Dezember des vergangenen Jahres im Festsaal eines barocken Palastes in einer osteuropäischen Hauptstadt. Dem wegen Verbreitung staatsfeindlicher Lügen inhaftierten Schriftsteller Pavel Prus wird die Entlassung angeboten, wenn er durch ein kurzes Gnadengesuch praktisch sein Schuldbekenntnis unterschreibt. Prus lehnt das Ansinnen ab. Acht Tage danach sitzt er als Leiter der Oppositionsgruppe ‘Öffentliche Plattform’ dem Premierminister und seinem Ersten Parteisekretär gegenüber. Draußen fordert das Volk den Rücktritt der Regierung, drinnen verhandelt man noch über die Bedingungen für Verhandlungen über Reformen.

Die Ereignisse überstürzen sich. Die Regierung versucht, mit verbalen Gesten und wirklichen Zugeständnissen an der Macht zu bleiben, muß aber schließlich auf ganzer Front kapitulieren. Eine Weile sieht es so aus, als wenn der in den sechziger Jahren gestürzte ehemalige Parteisekretär, eine Dubcek-Figur, jetzt Staatspräsident werden würde, doch die neue Regierung wünscht, daß dem Schriftsteller Pavel Prus als Symbolgestalt des Widerstands gegen stalinistische Diktatur diese Rolle zufällt.

Was sich anhören mag wie bloße Nachzeichnung bekannter historischer Tatsachen, ist nur der äußere Rahmen der Handlung. Edgar macht nicht den Versuch, einen politischen Machtkampf mit Happyend auf die Bühne zu bringen, in dem das Gute siegt und das Schlechte untergeht. Auch hat er der Versuchung widerstanden, ein Schlüsselstück zu schreiben, bei dem man als Zuschauer sich ständig genötigt fühlt, Abbild und Urbild zu vergleichen. Stattdessen beschreibt er die Schwierigkeiten, die sich bei einem politischen Machtwechsel ergeben, der ein ganzes System verändert. Er zeigt, wie schwierig es ist, die Macht im Staat zu übernehmen und staatliche Macht, die man lange ausgeübt hat, wieder abzugeben.

Statt uns mit wortreichen ideologischen Debatten zu langweilen, ist dem Autor ein ungemein spannendes, geistreiches, stellenweise sogar ausgesprochen witziges Theaterstück gelungen mit Charakteren, die voller Leben sind, in ihrer Eigenständigkeit faszinierende, widerspruchsvolle Persönlichkeiten. Dabei imponiert ganz besonders, wie fair Edgar die großen Verlierer behandelt. Er gibt ihnen die Möglichkeit zu zeigen, daß sie keine absoluten Bösewichter, keine Monster sind, sondern Leute, die teilweise früher selbst Opfer der Diktatur waren; die sich nach dem zweiten großen Krieg zusammenfanden und sich vornahmen, eine neue Welt zu schaffen, eine Welt, in der es keine Ausbeutung von Menschen durch Menschen mehr geben sollte.

Edgar deutet an, daß die Ausübung von Macht mit der Zeit korrumpierende Wirkung haben kann; daß die großen Ideale, von Kompromissen überlagert, sich einfach verlieren können; daß auch die neuen Leute an der Macht vor dieser Gefahr auf der Hut sein müssen.

In einer Szene des zweiten Aktes fragt Spassow, der rehabilitierte Architekt des seinerzeit fehlgeschlagenen Versuchs, einen menschenfreundlicheren Sozialismus zu etablieren, den Schriftsteller Prus, welche Idee, welchen Geist er und die Seinen freigesetzt zu haben glauben. Vor allem den Drang, wieder zu Europa zu gehören, antwortet Prus, einem Europa, in dem die Begriffe ‘kapitalistisch’ und ‘sozialistisch’ bedeutungslos geworden sind.

Als der abgesetzte Parteisekretär Josef Lutz den inzwischen zum Staatspräsidenten ernannten Schriftsteller daran erinnert, mit welcher Begeisterung die alten Genossen nach der Befreiung von den Nazis sich der heroischen Aufgabe witmeten, “die letzte Zeile der Geschichte der Menschheit zu schreiben“, hält Prus bescheiden dagegen: Nur keine Abenteuer, kein Heroismus und ganz gewiß keine Verheißungen mehr für eine unvorstellbar herrliche Zukunft! “Zurück zur Normalität!“ sei die Parole der neuen Revolution.

Weil Prus nicht daran glauben will, daß es bei der Frage, warum der Versuch der Verwirklichung der sozialistischen Idee so kläglich scheiterte, nur am Versagen von einzelnen lag, gibt er dem ehemaligen Parteisekretär – kuriose Umkehrung der Situation zu Anfang des Stückes – die Möglichkeit, um ein Pardon des Staatspräsidenten zu bitten und damit den Prozeß, der ihm bevorsteht, zu entgehen. Lutz lehnt das Angebot ab. Er halte es für richtig, daß einer, der von allem Anfang an dabei war, am Ende, wenn es darum geht, für die eigenen Irrtümer und Fehler einzustehen, auch die Konsequenzen zu tragen bereit sei.

‘The Shape of the Table’ ist, wie gesagt, ein erstaunliches Stück. Unter Jenny Killicks kluger und einfühlsamer Regie wurde daraus einer der ergiebigsten Theaterabende der letzten Jahre.

Nach Oben