die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1970
Text # 2
Autor Martin Esslin
Buchbesprechung
Titel Brief Chronicles
Sendeinfo 1970.07.14/BBC German Service

Martin Esslins Schriften zum Theater habe ich immer schon mit besonderer Lust gelesen. Von der Mehrzahl der allzu akademisch gelehrten, betont eigenwilligen oder einfach nichtssagenden Arbeiten zum Theater der Gegenwart unterscheiden sich die Beiträge Esslins durch profunde Sachkenntnis, Materialfülle und bemerkenswert anschauliche Beschreibung der Zusammenhänge. Die Texte dieses klugen, ganz und gar unintellektuellen Fachmannes sind vorbildliche Beiträge produktiver Theaterkritik. Seine Gedanken halten sich stets eng an das konkrete Material und arten niemals in weitschweifige Grundsatzerörterungen aus. Sie wollen nichts mehr und nichts weniger sein als Wegweiser im Dschungel der Formen des modernen Theaters. Esslins Arbeiten zu Bertolt Brecht und über das Theater des Absurden sind unentbehrliche Handbücher für jeden, der sich mit den wichtigsten Strömungen des Theaters von heute auseinandersetzen will.

Wer die beiden Bücher kennt und wegen ihrer Sachlichkeit, Genauigkeit und ihres anschaulichen Stils zu schätzen gelernt hat, der wird besonders erfreut sein über das neue Buch, das vor einigen Wochen erschienen ist. Unter dem Titel ‘Brief Chronicles - Beiträge zum modernen Theater’ vereinigt es Aufsätze und Vorträge, die zu verschiedenen Anlässen geschrieben wurden, bisher aber nur in Zeitschriften gedruckt erschienen. In diesem Sammelband finden sich Aufsätze über Ibsen und Pirandello, über einige der heute bedeutenden jüngeren Autoren, über episches und absurdes Theater und Beiträge zu den Themen ‘Nacktheit auf der Bühne’, ‘Happening’, ‘Theater und Massenmedien’ und ‘Theater der Grausamkeit’, jenen Begriff, von dem alle reden und von dem doch nur wenige wissen, was er wirklich meint.

Im Vorwort zu den ‘Brief Chronicles’ schreibt Martin Esslin, daß ein großer Teil des in diesem Band vorgelegten Materials gleichsam als Fußnoten und Nachträge zu seinen systematischeren Arbeiten aufzufassen sei, Zweitgedanken, Ergänzungen und erläuternde Anmerkungen zu den Themenbereichen Brecht und Theater des Absurden. Esslin berichtet, daß er sich nach der Veröffentlichung seines Buches zum Theater des Absurden in einiger Verlegenheit gesehen habe. Dieser von ihm geprägte Begriff, der eine Reihe von Autoren trotz ihrer offensichtlichen Verschiedenartigkeit sozusagen unter einen Hut bringt, war vielfach als Name einer dramatischen Schulrichtung aufgefaßt worden. Gewisse Journalisten hatten den bezeichneten Autoren mitunter die Frage vorgelegt: “Stimmt es, daß Sie - wie Martin Esslin behauptet - zur Schule des absurden Theaters gehören?”. Natürlich eine absurde Frage, schreibt Esslin, denn genauso gut könne man den Angehörigen eines afrikanischen Stammes, der Masken schnitzt, danach fragen, ob er glaube, daß er zur Schule der Kubisten gehöre. Was ihn veranlaßt habe, den Begriff vom Theater des Absurden auf so verschiedenartige Dichter wie Beckett, Ionesco, Pinter und andere anzuwenden, sei ja keineswegs eine gemeinsame Ideologie, sondern vielmehr die verschiedenen Ausdrucksformen dieser Autoren, die Entwertung der Sprache, die Auflösung einer durchgehenden Handlung, der Verzicht auf die Lösung der dargestellten Konflikte, sowie die Erfindung neuer Formelemente.

Wenn wir nämlich davon überzeugt sind, daß es keine einfachen, schlüssigen Erklärungen für die weltbewegenden Hintergründe des Daseins gibt, dann dürfen wir von den Autoren nicht erwarten, daß sie uns Theaterstücke schreiben, in denen alles glatt und widerspruchslos aufgeht. Wer auf der Bühne sinnvolle Konstruktionen und endgültige Lösungen zu sehen wünscht, die das Leben selbst nicht geben kann, wird sich am sogenannten Nihilismus und an der Negativität dieser Stücke ärgern. Sie sind realistischer, als unsere realen Vorstellungen von der Wirklichkeit sein mögen.

In seinem Beitrag ‘Brecht 1969’ weist Esslin darauf hin, daß die in den letzten Jahren ans Licht gekommenen Arbeiten Brechts, sowie die meisten Zeugnisse von Zeitgenossen und Freunden des Dichters die Richtigkeit des in seinem Brecht-Buch gezeichneten Bildes von der Persönlichkeit und vom Leben des “armen bb” bestätigt hätten. Esslin belegt das mit zahlreichen Hinweisen auf neues Material.

Sein Artikel ‘Brecht und das englische Theater’ behandelt die Frage, warum die englischen Aufführungen der Brechtschen Stücke von der Kritik fast einstimmig abgelehnt worden seien. Und er kommt zu dem Schluß, daß dies einfach an der Bequemlichkeit der bestallten Kritiker liege, die die Stücke und erst recht Brechts theoretische Schriften nie gelesen hätten und darum nur aus zweiter Hand kennen, jene Hand aber sozusagen eine unglückliche gewesen sei, weil die englischen Regisseure Brecht mißverstanden hätten. Gewissse Einflüsse des Brechtschen Theaters seien an einigen Bühnen Londons ganz unverkennbar. Doch die Schönheit und Größe der Stücke und die Bedeutung Brechts für das Theater der Gegenwart seien noch unentdeckt.

Mit welchen Schwierigkeiten ein Autor in fremder Umgebung rechnen muß, zeigt der amüsanteste Beitrag in Esslins Buch, der Artikel “Der übersetzte Pinter”. Esslin zitiert eine ganze Serie der unglaublichsten Übersetzungsfehler und Stilblüten in der ersten deutschen Übertragung der Pinterschen Stücke. Da wird aus der Stadt Drogheda ein Stärkungsmittel, aus Kleinkindern werden Hausierer, aus ‘penthouse’ wird ‘Pension’ und aus einer ‘verdammten Frechheit’ eine ‘beschissene Freiheit’. Kein Wunder, schreibt Esslin, daß die deutschen Kritiker sich über die merkwürdigen, primitiven Stücke dieses Autors die Köpfe zerbrachen und nicht verstanden, warum man anderenorst so viel Aufhebens von ihm machte.

Wir dürfen beruhigt sein, daß den Beiträgen Martin Esslins bei der Übersetzung ins Deutsche ein ähnliches Schicksal erspart bleibt. Der Autor kann selbst dafür sorgen, daß seine ‘Brief Chronicles’ nicht als ‘chronische Briefe‘ unter die Leute kommen; denn seine Muttersprache ist Deutsch.

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