Über zweieinhalb Jahrtausende hat es gedauert, bis die Engländer dieses Werk zur Aufführung brachten. Drei Jahrzehnte habe Peter Hall, der Intendant des Nationaltheaters, über die Möglichkeiten einer Inszenierung der ‘Orestie’ gebrütet, heißt es. Die dem antiken Amphitheater nachempfundene Architektur des Olivier Theatre hätte schließlich die idealen Voraussetzungen dafür geschaffen. Vier Jahre habe Tony Harrison an der Übertragung der Trilogie gearbeitet. Nach zahlreichen Werkstattversuchen waren Übersetzer und Regisseur zu der Einsicht gekommen, daß man den Text als “rhythmisches Libretto für Masken, Musik und ein männliches Ensemble” auffassen und dementsprechend realisieren müsse, ein Vorhaben, welches sich als so schwierig erwies, daß die verlängerte Probenzeit von achtzehn Wochen nur knapp bemessen schien.
Die mit einer Inszenierung des Werkes verbundenen Schwierigkeiten sind, auch wenn man sie nicht noch künstlich vermehrt, in der Tat so gewaltig wie der Text selbst. Die frühe griechische Tragödie war noch als Kulthandlung zu verstehen, Ausdruck der Erfahrung einer vom Walten der Götter erfüllten Welt, in welcher der Mensch dem Schicksal, das sie verhängt haben, nicht entfliehen kann. Die mythischen Stoffe waren den Zuschauern vor zweieinhalbtausend Jahren noch wohlvertraut; die Gestalten der Götter und Menschen in den dramatischen Werken erkennbare Repräsentanten natürlicher Kräfte und Impulse, die in der politischen Wirklichkeit Gestalt gewonnen hatten. Der Übergang von der matriarchalischen Stammeskultur mit ihren die alte Ordnung bewahrenden Erdgottheiten zur patriarchalischen Polis mit ihren jüngeren Schutzgöttern Athene und Apoll fand in den Stücken des Aischylos seinen Niederschlag. Die überlieferten Geschichten wurden von den Griechen erlebt als historische Vergangenheit ihrer Gegenwart. Doch was bedeutet uns heute das Schicksal Orests, was ist uns Hekuba? Eine durchaus berechtigte Frage, auf welche die Aufführung antworten sollte.
Peter Hall hat sich von Jocelyn Herbert getreu nach klassischem Vorbild eine kreisrunde Orchestra bauen lassen mit zwei Wegen, die diagonal nach links und rechts hinter die Bühne führen, und einer sehr hohen silbrig glänzenden Rückwand, Eingang zum königlichen Palast oder Tempel. Davor eine Art Proskenion, ein schmales Podest mit ein paar Stufen als Verbindung zur Orchestra. Das Ensemble besteht aus sechzehn männlichen Schauspielern; sie verkörpern Choreuten und Protagonisten der drei Stücke. ‘Agamemnon’, das erste, berichtet über die Heimkehr des Siegers von Troja und seine Ermordung durch Klytemnestra. In den ‘Choephoren’, dem zweiten Teil der Trilogie, übt ihr Sohn Orest Rache für die Ermordung des Vaters durch Tötung der Mutter und ihres Liebhabers. In den ‘Eumeniden' sucht der von Furien gejagte Muttermörder Zuflucht bei Athene, die schließlich Frieden stiften kann. Das alte Gesetz der Notwendigkeit, nach welchem ein Verbrechen gesühnt werden muß durch eine Tat, die selbst wieder nach Sühne verlangt, wird nicht verworfen, doch aufgehoben im Prinzip der Versöhnung.
Tony Harrison hat den Text des Aischylos in derbe, farbkräftige Stabreime übertragen, im Stil der angelsächsischen Dichtung der Beowulf-Zeit. Die Passagen der schnellen Wechselreden, der Stychomythie, haben Endreime, die nicht selten köstliche Wortwitze enthalten, doch mitunter auch den Verdacht der sprachlichen Trivialisierung fast zur Gewißheit werden lassen.
Die Darsteller tragen Masken. Dies sei nicht als Versuch der historisierenden Nachahmung zu verstehen, meint Peter Hall; doch die in den Stücken des Aischylos ausgedrückten Leidenschaften seien so gewaltig und so primitiv, daß man sie maskieren müsse, um das Unsägliche sprechbar zu machen. Die mit der Maskierung verbundene Abkühlung sei im Sinne von Entindividualisierung und Objektivierung erwünscht.
Was Hall dagegen nicht gewünscht haben kann: daß die Masken das gesprochene Wort akustisch schwerer verständlich machen, zumal man oft nicht erkennen kann, wer gerade spricht; daß dabei nicht nur die mimischen Ausdruckswerte, sondern auch viele der sprachlichen Nuancen verloren gehen; und daß – weil Musik und Choreographie für das Fehlende keinen Ausgleich schaffen – die Verfremdung hier bis zur Neutralisierung, die Abkühlung bis zum Punkt der Gleichgültigkeit getrieben wird und damit die Wirkung des ganzen verspielt.
Harrison Birtwistles Musik für Blasinstrumente, Harfe und Schlagzeug skandiert die meistens in Einzelstimmen aufgelösten, doch gelegentlich auch gesungenen Strophen des Chors, begleitet die Reden der Protagonisten und setzt an dramatischen Höhepunkten schrille Akzente.
Die anfängliche Faszination des maskierten Spiels verliert im Verlauf der Vorstellung, die sich über fünf Stunden hinzieht, immer mehr an Reiz. Die Monotonie ermüdet. Wenn im dritten Teil die Götter selbst die Szene betreten und durch ihr Kostüm und ihr opernhaftes Gebaren für Augenblicke an Wagnerfiguren erinnern; wenn Apollo seiner Verteidigungsrede für Orest uns weismachen will, daß Muttermord ja nur halb so schlimm sei wie die Ermordung des Ehemannes, die Frau als Mutter “nicht Zeugerin, nur Pflegerin eingesäten Keims”; und wenn nach dem Freispruch des mandeläugigen Jünglings den Zuschauern bedeutet wird, sich zum Auszug der endlich besänftigten Eumeniden von ihren Plätzen zu erheben und damit dem Ende einen Hauch von Weihehandlung zu geben, dann ist man recht froh, den langen Abend gut überstanden zu haben.
[ PS: Alle Londoner Kritiker, die Peter Steins Berliner ‘Orestie’ gesehen hatten, gaben nach der Premiere zu verstehen, daß die Inszenierung der Schaubühne differenzierter, phantasievoller und in der Wirkung wesentlich stärker gewesen sei ].