“Das Theater muß anfangen, sein Publikum ernstzunehmen“, schrieb Howard Barker vor Jahren. “Es muß aufhören, Geschichten zu erzählen, die es versteht”. Es darf also nicht wundern, daß das Publikum sich schwertut mit seinen Stücken. Imagination ist der Spielort seiner szenischen Gebilde, die – wie aus gegenständlichen Elementen komponierte ungegenständliche Werke der Bildenden Kunst – sich zwar auf konkrete Beobachtungen beziehen lassen, doch keine eindeutigen Antworten geben auf die Frage, was das ganze jeweils zu bedeuten habe.
“Laßt euch gesagt sein”, heißt es in einem Prolog zu Barkers Schauspiel ‘Das letzte Abendmahl’, “laßt euch gesagt sein: das Stück enthält keine Botschaft”.
Sein neuestes Stück mit dem Titel ‘Ursula’ wurde angeregt von Lukas Cranachs Altarbild über die Ermordung der Jungfrauen, das der Autor in Dresden sah. Dabei fiel ihm auf, daß Cranach im Unterschied zu anderen Darstellungen der legendenhaften Begebenheit die Aufmerksamkeit von den Opfern des Massakers auf den Täter verlagert, den Anführer der Hunnen, der hier nicht als barbarisches Scheusal abgebildet wird, sondern als kaltblütiger, schöner Todesengel, der, auf sein Schwert gestützt, wie ein SS-Offizier dem großen Gemetzel teilnahmslos zusieht.
Über die historische Ursula wissen wir so gut wie nichts. Nach den Legenden, die seit dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung sich um die Geschichte gebildet und sie immer wieder mit neuen unglaubwürdigen Details ausgeschmückt haben, war Ursula eine britische Prinzessin, die ein Keuschheitsgelübde ablegte, um der Verheiratung mit dem Sohn eines üblen Tyrannen zu entgehen, und in Begleitung von zehn- oder elftausend gleichgesinnten jungen Mädchen per Schiff zu einer Pilgerfahrt nach Rom aufbrach. Von ihrem Kurs abgekommen, seien die Schiffe in das Rheindelta getrieben, dann stromaufwärts nach Süden gefahren, in der Nähe von Köln aufgehalten und von den Hunnen in einem furchtbaren Gemetzel niedergemacht worden.
Cranachs Altarbild veranlaßte Barker zu einer eigenen Version der Geschichte, einer dramatischen Meditation über das Thema Jungfräulichkeit, gesehen aus der Perspektive des späten 20. Jahrhunderts. Wie in vielen seiner früheren Bühnenwerke gibt es auch hier keine eigentliche Handlung, und alles, was sich über den Inhalt sagen läßt, ist bereits Auslegung, Interpretation eines dialogisierten Textes, der sich der einfachen Deutung entzieht.
Eine Gruppe von jungen Mädchen in nonnenhaften weißen Gewändern erörtert das Thema Ehe. Eine als ‘Mutter’ angeredete, etwas ältere Frau scheint darum bemüht, den Novizen die natürliche Sehnsucht nach einem leibhaftigen Mann auszureden und ihnen stattdessen den Vorzug einer jungfräulichen Ehe mit Christus zu empfehlen. Konsterniert nimmt der Konvent zur Kenntnis, daß Ursula, ein blauäugig blondes Mädchen, heiraten wolle. Ursula trägt ein gerahmtes Bild ihres Verlobten bei sich, ein spärlich bekleideter junger Mann in heroischer Pose: “Der Körper eines Gottes!“, seufzt Ursula. “Sprich mir von der Schönheit der Jungfräulichkeit“, bittet sie die Priorin, “und ich will dir sprechen von der Schönheit eines Mannes“.
In einer Vision erscheint ihr der Verlobte: “Du bist Christus und ich bin Ursula!“, ruft sie ihm zu. Seit je sei sie für ihre Schönheit bewundert worden, vor allem wegen der “gelben Haare” – ständige Versuchung für die Männer und Versuchung, ihrem Werben nachzugeben. Ursula will die Versuchung als Prüfung Gottes begreifen, die es zu bestehen gilt, weiß aber auch, es geht um “die Vernichtung des Selbst”. Auf Drängen der Priorin wirft sie das Bild des Verlobten in den Fluß.
Doch dann kommt es zu einer überraschenden Wende. Die von den Novizen fast wie eine Heilige verehrte Priorin Placida (auf deutsch ‘Die Huldvolle’) wirft sich dem durch Ursulas Weigerung in seiner männlichen Eitelkeit getroffenen Helden (“Ich bin nicht weniger schön als Christus!”) an den Hals, um jene Huld zu erfahren, die sie den jungen Frauen versagt: die ersehnte Defloration. Daß sie am Ende selbst das Schwert ergreift und ihre Eleven eigenhändig enthauptet, kann als Metapher verstanden werden, daß die Verlogenheit der sinnenfeindlichen Lehren den Mädchen faktisch das Leben kostet.
Die Truppe ‘The Wrestling School’, die das Stück in den Riverside Studios vorstellt, wurde 1988 von Mitgliedern der Royal Shakespeare Company und des Royal Court Theatre gegründet “zur Erforschung des Verhältnisses von Sprache und Kommunikation, Darstellung und Publikum an den Werken von Howard Barker, auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen für die zeitgenössische Tragödie“. Der Name ‘The Wrestling School’ (wörtlich ‘Die Ringerschule’) weise darauf hin, daß das Ensemble mit den Ideen der Stücke “ringen” müsse, um in der Lage zu sein, sie angemessen darzustellen.
Dieser im Grunde selbstverständliche, doch in der Praxis durchaus nicht immer verwirklichte Anspruch hat bei den meisten Inszenierungen der Truppe im Laufe der Jahre zu bewundernswerten Ergebnissen geführt, die ihr den Ruf einbrachten, “eines der feinsten Theaterensembles des Landes” zu sein.
Howard Barkers eigene Inszenierung des neuen Stückes gehört leider nicht zu den stärksten Arbeiten der ‘Wrestling School’. Was sich gedanklich klar genug mitteilt, ist die sublime Kritik an dem Jungfrauenkult wie an der Verlogenheit einer sinnenfeindlichen Kirchenideologie. Doch als Theaterstück läßt das, was wir auf der Bühne sehen und hören, kalt, weil dem Plädoyer für die Bejahung der Sinne – horribile dictu – die Sinnlichkeit fehlt.