die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1992
Text # 274
Autor David Storey
Theater
Titel Stages
Ensemble/Spielort National Theatre/London
Inszenierung/Regie Lindsay Anderson
Hauptdarsteller Alan Bates
Uraufführung
Sendeinfo 1992.11.28/SDR/RIAS/DS Kultur/BR

Der 1933 in Yorkshire als Sohn eines Bergarbeiters geborene David Storey gilt als “einer der wenigen bedeutenden Dichter aus proletarischem Milieu seit D.H. Laurence”. Schon als Vierzehnjähriger hatte Storey beschlossen, sein Leben der Kunst zu widmen. Um sein Studium der Malerei zu finanzieren, war er eine zeitlang professioneller Rugby-Spieler gewesen, hatte sich dann aber vor allem aufs Schreiben verlegt. Nach dem Erfolg seines ersten Theaterstückes ‘The Restoration of Arnold Middleton’ wurde Storey gewissermaßen zum Hausdichter des Londoner Royal Court Theatre, das allein zwischen 1967 und 1974 nicht weniger als acht in Stücke von ihm zur Uraufführung brachte, in einem Zeitraum von knapp sieben Jahren, in dem Storey zudem noch mehrere Romane und Drehbücher schrieb. 1976 gewann er, nach einer Reihe anderer Auszeichnungen, den begehrten Booker-Preis.

Wer David Storeys Romane liest und einige seiner Bühnenstücke gesehen hat, stellt fest, daß alle seine Texte autobiographische Elemente enthalten, die wie Leitmotive in seinen Werken wiederkehren. Eine seiner zentralen Themen ist der Konflikt zwischen Kunst und Leben, die Rolle des Künstlers in der modernen Gesellschaft, vor allem die Frage, ob der Künstler vor der Realität, künstlerische Arbeit vor den entscheidenden Aufgaben der Lösung realer Probleme überhaupt noch bestehen kann. Und weil es für viele seiner Charaktere keine befriedigende Antwort auf diese immer wieder gestellte Frage zu geben scheint, droht ihnen die Gefahr, an dem als unlösbar empfundenen Konflikt den Verstand zu verlieren.

David Storeys neues Stück mit dem Titel ‘Stages’ (Stationen), das soeben am Londoner Nationaltheater uraufgeführt wurde, enthält wieder viele der aus früheren Werken bekannten Motive. Aber auch in anderem Sinne wirkt es wie ein literarisches Resümee, ein melancholisches Spiel der Erinnerung, das sich vor allem im Kopf seines schwermütigen Protagonisten zuträgt.

Fenchurch, ein etwa fünfzigjähriger, früher sehr erfolgreicher Maler und Schriftsteller, hat einige Zeit in einer Nervenheilanstalt verbracht und sich nach seiner Entlassung in eine Londoner Wohnung zurückgezogen, wo er von vier Frauen – seiner Tochter, seiner ehemaligen Ehefrau, seiner Psychotherapeutin und einer Nachbarin – aufgesucht wird, die alle um ihn besorgt sind und ihn dazu bewegen wollen, die Einsamkeit seines Großstadtdomizils zu verlassen und nach Nordengland heimzukehren. Doch statt ihm zu helfen, tragen die Frauen dazu bei, daß er das mühsam zurückgewonnene Gleichgewicht wieder verliert. Fenchurch scheint die letzte Station seines Lebens erreicht zu haben, von wo es nur noch Erinnerung an das Vergangene gibt, doch keine Zukunft mehr.

Das Stück beginnt mit einem Gedicht, das Fenchurch einer gewissen Bella gewidmet hat. Wie wir später erfahren, war jene Isabela die einzige Frau, die er je wirklich liebte und mit der er über viele Jahre ein intimes Verhältnis hatte, das vor aller Welt verbogen werden mußte. Denn Bella, die der achtzehnjährige Jüngling kennen und lieben lernte, war 32 Jahre älter als er, und Fenchurch hatte, um der Geliebten ständig nahe sein zu können, deren Tochter geheiratet. Die geheime Liebe zu Bella wurde zum Motor seiner künstlerischen Arbeit, sie war seine Muse geworden und hatte sein Leben mehr als jeder andere Mensch entscheidend geprägt. Bellas Tod hatte ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Seitdem nurmehr der Wunsch, Vergangenes zu erinnern. Endstation.

Storeys Text hat keine Handlung, keine dramatische Entwicklung und so gut wie keine emotionale Bewegung. Und die weiblichen Rollen bleiben so schemenhaft, wie sie von Fenchurch selbst wahrgenommen werden. So wirkt das ganze weniger wie ein Theaterstück als wie ein meditatives Gedicht. Daß es uns dennoch als Aufführung so stark berührt, ist vor allem der sensiblen Inszenierung von Lindsay Anderson zu verdanken, der sich wie kein anderer Regisseur auf den poetischen Ton und die rhythmischen Qualitäten von Storeys Texten versteht.

Mit Alan Bates, der gemeinsam mit Lindsay Anderson und seiner Bühnenbildnerin Jocelyn Herbert schon in den sechziger und siebziger Jahren zur Stammtruppe des Royal Court Theatre, der damals einflußreichsten Schauspielbühne Großbritanniens, gehörte und nun nach achtzehn Jahren wieder in der Hauptrolle eines Stückes von David Storey zu sehen ist, wurde die Aufführung von ‘Stages’ in mehr als einem Sinne zum Déjà-vu-Erlebnis.

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