die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1996
Text # 364
Autor Botho Strauß/Anton Tschechow/Wallace Shawn
Edinburgh Festival
Titel Die Zeit und der Raum/Onkel Wanja/The Fever
Ensemble/Spielort Martin Duncan/Peter Stein/Clare Coulter
Inszenierung/Regie Nottingham Playhouse/Teatro Argentina (Rom)/Traverse Theatre/Edinburgh
Hauptdarsteller Miranda Richardson
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1996.08.31/WDR/DR 1996.09.02/SWF Kultur aktuell/Nachdruck: Darmstädter Echo

Nach der allgemeinen Enttäuschung, daß das Theaterprogramm im offiziellen Teil des 50. Edinburgh International Festival als das an wirklich großen Aufführungen ärmste in die Geschichte eingehen wird, konzentrierte sich die Erwartung auf die beiden letzten Schauspielpremieren der dritten Festivalwoche.

Das Nottingham Playhouse stellte das Stück ‘Die Zeit und der Raum’ von dem in Großbritannien kaum bekannten Botho Strauß in einer neuen Übersetzung von Jeremy Sams vor. Unter der Regie von Martin Duncan spielt das englische Ensemble den problematischen Text, als wäre es ein absurdes, überaus komisches Lustspiel. Weil man den Worten allein nicht vertraut, werden sie überbetont, mit närrischen Gesten und albernen Gags aufgebläht, bis jeder mögliche Sinn sich unter dem großen Gelächter verflüchtigt hat.

Die Zeitung ‘The Scotsman’ nannte das ganze “eher ermüdend als provozierend”. Die Aufführung zeige eigentlich nur, wie leicht es sei, die Leute im Theater zum Lachen zu bringen, obwohl der Raum, um den es geht, als “total humorfreie Zone” erscheine. Der Kritiker der ‘Times’ meinte lakonisch: “Was das Stück über das Leben außerhalb des Theaters zu sagen haben mag, blieb mir verborgen”.

Wer bis zur zweiten Hälfte der dritten Festivalwoche durchhielt, wurde dafür mit einem Theatererlebnis belohnt, das alle Enttäuschungen vergessen ließ. Peter Steins italienische Inszenierung von ‘Onkel Wanja’ ist die beste, schönste und, wie ich glaube, authentischste des Werkes, die ich in viereinhalb Jahrzehnten gesehen habe; eine Aufführung, die durch den Verschleiß der Superlative für viel geringere Arbeiten einfach sprachlos macht.

Es gibt so vieles daran zu bewundern, daß man nicht weiß, wo man beginnen und enden soll: die Behutsamkeit seines Verfahrens; sein Gespür für die sinnlichen Qualitäten des Textes, das Atmosphärische; seine Sensibilität für den Spielraum der Glaubhaftigkeit, die ihm allemal wichtiger ist als irgendein äußerer Effekt; der Verzicht auf jegliche Mätzchen, die scheußlichen Verrenkungen des modernen Regietheaters, das vor allem im deutschen Sprachbereich die absurdesten Blüten treibt. Was an Peter Steins Inszenierung so wohltuend altmodisch erscheint, ist nicht die Rückkehr zur überholten Vergangenheit, sondern weist voraus in die Zukunft, in der Theater wieder etwas zu sagen haben könnte.

Die für mich in diesem Jahr wichtigste Aufführung im großen Rahmenprogramm, dem Festival Fringe, Wallace Shawns dramatischer Monolog ‘The Fever’ (Das Fieber), vorgestellt von der kanadischen Schauspielerin Clare Coulter im Edinburger Traverse Theatre, ist noch entschiedener und radikaler, weil absichtsvoll gegen den Trend der Zeit gerichtet, den herrschenden Ungeist, der uns das Fühlen und Denken und damit die Möglichkeit, sinnvoll zu handeln, abzugewöhnen bemüht ist.

Wallace Shawns inzwischen berühmter (auch in deutscher Sprache veröffentlichter) Text ist revolutionär im besten Sinne des Wortes. Er richtet sich an ein Publikum, das noch ins Theater geht, also an jene fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung, die fast ausnahmslos dem liberal gesinnten, gebildeten Mittelstand angehören. Die Wirkung ist explosiv. Denn Shawn verletzt ein Tabu. Er denunziert uns, die Privilegierten der Ersten Welt, durch Selbstanzeige, erklärt uns zu Mittätern an den Verbrechen, die in den Ländern der Dritten Welt tagaus tagein begangen werden. Weil wir die Privilegien, die wir genießen, nicht mit den Habenichtsen teilen wollen, dulden und fördern wir die Diktaturen, die jeden Wunsch nach Teilhabe, also nach wahrer Demokratie, mit Folter und Mord gewaltsam ersticken und damit garantieren, daß die Verhältnisse weltweit bleiben, wie sie sind.

Clare Coulter spricht den gefährlichen Text mit einer inneren Beteiligung, einem Ernst und einer Betroffenheit, die sich fast körperhaft übertragen und eine Katharsis in Gang setzen, die nach dem Geständnis der Schuld auf die Einsicht drängt, daß wir verantwortlich sind und es darum bei uns liegt, die Greuel zu beenden.

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