die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1987
Text # 226
Autor Boris Wassiliew
Theater
Titel Tomorrow Was War
Ensemble/Spielort Majakowskitheater Moskau/National Theatre/London
Inszenierung/Regie Andrei Gonscharow
Sendeinfo 1987.10.29/SWF Kultur aktuell 1987.10.30/DLF/WDR/RIAS/SRG Basel/Nachdruck: Darmstädter Echo

In einem Vorwort zu dem Stück ‘Morgen war Krieg’ schreibt sein Autor Boris Wassiliew: “Wir sprechen oft davon, das Rußland im letzten Krieg zwanzig Millionen Menschen verlor, doch selten sagen wir, welche zwanzig Millionen. Es war die Blüte unseres Vaterlandes: wir verloren das Lachen der Jugend, ihre Schönheit, ihren Übermut, ihre Hoffnung auf ein normales glückliches Leben. Von den Jungen meiner Schulklasse haben nur vier den Krieg überlebt“.

‘Morgen war Krieg’ ist ein Spiel der Erinnerung zum Gedenken an die letzten Wochen vor dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion und an die damals sechzehnjährigen Jungen und Mädchen der Klasse 9B, von denen die meisten im August 1943 schon nicht mehr am Leben waren.

Ein junger Mann mit einem Kriegsorden auf der Brust steht in den Ruinen seiner alten Schule mit einem Foto in der Hand und erinnert sich an den Herbst 1940, als die Aufnahme entstand und noch keiner ahnte, was die nächsten Monate bringen würden. Seine Erinnerung führt uns zurück in ein Schülermilieu, das geprägt ist von den Narben des russischen Bürgerkriegs, der das Land veränderte, neue Regeln des Zusammenlebens schuf, doch im Folgenden die Erfahrung brachte, daß Revolution, die totale Umstellung einer Gesellschaft, nicht in einem einfachen Akt gelingt, sondern in einem langwierigen, komplizierten Prozeß über Umwege und Irrwege mühsam erkämpft werden muß.

Die Welt der Erwachsenen, der Väter und Mütter, die den Bürgerkrieg mitgemacht haben, stellt den Kindern die Wegweiser auf. Doch sie weisen in verschiedene Richtungen. Für die einen ist jedes Mittel zur Durchsetzung der ‘unbestreitbaren Wahrheit’ recht. Die Mutter des Mädchens Iskra ist eine abstoßend kalte, herrische Kommissarin, die unbarmherzig nach der Parole verfährt: Gerecht ist, was der Gesellschaft nützt. Für die anderen geht es um die Entwicklung eines Bewußtseins von Verantwortung auf der Basis gegenseitigen Vertrauens und menschlichen Mitgefühls. Der Vater des Mädchens Wika erklärt: Wahrheit darf nicht zum Dogma werden, und Gerechtigkeit gibt es nur da, wo man sicher ist vor Verurteilung ohne Nachweis von Schuld.

Klassenlehrerin und Direktor verkörpern im schulischen Bereich denselben Gegensatz grundverschiedener Haltungen. Die engstirnig dogmatische, autoritäre Lehrerin – die verkniffene Gestalt einer schon in jungen Jahren verbitterten, lebenslustfeindlichen Jungfer – beschimpft den Direktor als ‘liberalen Abenteurer’ und sorgt für seine Entlassung. Als Wikas Vater (zu unrecht, wie sich später herausstellt) der Unterschlagung von Geldern beschuldigt und verhaftet worden ist und die politischen Intrigen der Lehrerin seine Tochter in den Selbstmord getrieben haben, kommt es in der Klasse zum offenen Widerstand.

Die scheinbaren Verlierer, Wikas Vater und der liberale Schuldirektor, bleiben die moralischen Sieger. Sie werden zu Vorbildern der aus der Bevormundung sich lösenden jungen Leute, die uns das Stück in jeder anderen Beziehung als ganz gewöhnliche Jungen und Mädchen zeigt, im schwierigen Alter zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt, mit ihrer Verspieltheit, ihren Koketterien und harmlosen Flirts, ihren Ungereimtheiten, ihrem Vorwitz und Übermut und ihren ersten Lektionen von Unrecht und Leid und dem Maß der gegenseitigen Angewiesenheit.

Daß die Figuren des Stückes sich immer wieder direkt ans Publikum wenden und von sich selbst in der dritten Person sprechen – die epischen Elemente, die Wassiliew bei der Dramatisierung seines zunächst als Novelle geschriebenen Textes beibehalten hat – verrät das didaktische Bestreben. Zu den Stärken von Andrei Gonscharows Inszenierung gehört die Kunst der Charakterisierung, besonders der jungen Leute, die das jugendliche Ensemble des Moskauer Majakowskitheaters scheinbar mühelos glaubhaft zu machen versteht.

Es ist eine Aufführung, die beeindruckt, vor allem durch ihre Offenheit, den Mut zur Auseinandersetzung, zur ehrlichen Selbstüberprüfung, die Folgen zeitigen, wo nötig Änderung schaffen soll.

In einer der letzten Szene des Stückes nehmen die Schüler Abschied vom Herbst. “Es war ein schlimmes Jahr“, sagt eines der Mädchen, “ein Schaltjahr; das nächste Jahr wird besser werden“. Das nächste war 1941, brachte den Krieg mit Deutschland und damit zwanzig Millionen Russen den Tod.

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