die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1980
Text # 151
Autor Sam Shepard
Theater
Titel Seduced
Ensemble/Spielort Theatre Upstairs/Royal Court Theatre/London
Hauptdarsteller Ian McDiarmid
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1980/05/20/SWF Kultur aktuell/RB/ORF Wien/SRG Basel 1980.05.27/WDR/Nachdruck: Darmstädter Echo

Die wahre Monstrosität einer Gestalt wie die des Legenden umwobenen Howard Hughes scheint alles zu übersteigen, was selbst die Phantasie des ins Absonderliche verliebten Autors Sam Shepard erfinden könnte. So zeichnet er nach, umschreibt die Absurdität einer Existenz, die als Symptom einer nationalen, wenn nicht gar weltweit verbreiteten Krankheit zum Tode verstanden werden kann, einer Gesellschaft nämlich, die der Verführung von Macht, Sexualität und Reichtum erliegt und, wenn sie sich alle Begierden erfüllt hat und nichts mehr zu wünschen übrig bleibt, mit Angst und Schrecken vergehen wird.

Henry Hackamore, ein Mann mit unabschätzbarem Reichtum, lebt seit fünfzehn Jahren auf der Flucht vor der Welt, eingesperrt in streng bewachten Hotelzimmern, die er nie verläßt, geplagt von eingebildeten Krankheiten und sehr realen Ängsten, der Angst vor Mikroben, vor dem Tageslicht, vor dem Essen, vor Menschen und vor dem Tod. Der Inbegriff des armen reichen Mannes, von dem es heißt: was hülfe es wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele. Sinnbild der destruktiven Gier nach Macht durch Besitz: ”Nichts ist harmlos, bevor es zermalmt ist“, erklärt der greise Hackamore, der halb nackt, verschmutzt und wund gelegen, mit langem, weißsträhnigem Haar, wildem Bart und riesigen, krallenartig gekrümmten Fingernägeln, aus seinem vollautomatischen Zahnarztsessel mit eigener Kraft sich kaum mehr erheben kann, zeitweise wirklich paralysiert von den Wahnbildern einer überreizten Phantasie, die ihm das Leben zur Hölle macht.

Bevor es mit ihm zu Ende geht, hat Henry Hackamore nurmehr drei Wünsche offen: Er sehnt sich noch einmal nach der “erschütternden, Ehrfurcht gebietenden Macht der Weiblichkeit”, nach einem möglichst lebensgetreuen Bericht über intime Erlebnisse von Menschen der Außenwelt und nach einer letzten Chance, noch einmal selbst ein Flugzeug steuern zu können. Doch obwohl er die Macht hat, das Gewünschte anzubefehlen, bleibt die Erfüllung angewiesen auf die eigene Vorstellungskraft.

Die Apotheose der Unzerstörbarkeit des Monsters, mit der das Stück endet, befördert das Banale geradewegs ins Reich der Mythologie. Shepard mythologisiert die Leitbilder des American Way of Life auf eine Art, bei welcher die durch extreme Übertreibung gewonnene Distanz sich immer wieder aufzulösen scheint in verstärkter Idolatrie, einem Götzenkult des erschreckend geistlos Banalen, der Perversion realer Glückserfüllung. So setzt Kritik sich schließlich durch als Glorifizierung des Negativen.

Shepards Stücke wirken wie Albträume, weil sie die Realität als eine Hölle beschreiben. Ob der Autor sich selbst und die eigenen Arbeiten so versteht, bleibt dahingestellt.

Das neue Stück mit dem Titel ‘Seduced’ (Verführt) ist wenig mehr als eine dramatische Etüde, die steht und fällt mit der virtuosen Darstellung der Hauptfigur. Ian McDiarmid gibt die unvergeßliche Studie eines Wahnsinnigen, der alle Schätze der Welt besitzt, doch unglücksselig zugrunde geht, klägliches Sinnbild einer moribunden Gesellschaft, die nicht zu wissen scheint, was sie tut.

Die Londoner Kritiker reagierten auf Shepards neues Werk überwiegend sehr positiv. “‘Seduced’ ist ein Stück über Erinnerung, Todesnähe, Statusverkehrung und andere, klar zur Geschichte des Howard Hughes gehörende Themen“, schreibt Irving Wardle in der ‘Times’. “Was es dagegen nicht ist: ein oberflächlicher Kommentar auf das Elend der Reichen”.

“Das Leben des Howard Hughes ist bereits zu einer der absonderlichen Mythen des 20. Jahrhunderts geworden“, meint der Kritiker des ‘Sunday Telegraph’. “Wie alle Stücke Shepards mutet auch dieses sardonische Werk dem Publikum einiges zu; aber es lohnt, sich darauf einzulassen”.

“Shepard beleuchtet die amerikanische Tragödie“, schreibt Milton Shulman im ‘Evening Standard’, “den materialistischen schönen Traum, der sich in einen paranoischen Albtraum verwandelt. Zugleich offenbart das Stück, wie die Arbeiten vieler anderer amerikanischer Autoren, daß Shepard selbst der Verführung des Rätselhaften erlag”.

“Alles sehr widerlich, was wir da sehen”, heißt es dagegen im ‘Daily Telegraph’, “wenngleich vorzüglich geschrieben. Nur zieht sich die verworrene, unerquickliche Anekdote etwas zu lange hin. Das Publikum wankt am Ende durch Pulverrauch, Blut und schmutzige Papiertaschentücher ins Freie mit der Erinnerung an eine Fiktion, die an die scheußliche Realität, die sie inspirierte, nirgends heranreicht”.

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