Kaum viereinhalb Monate nach der Premiere des gewaltigen Griechen-Zyklus, dem größten und anspruchsvollsten theatralischen Projekt, das sich die Royal Shakespeare Company in den letzten anderthalb Jahrzehnten zumutete, tritt das Ensemble mit einer neuen szenischen Großtat an die Öffentlichkeit. ‘Leben und Abenteuer des Nicholas Nickleby’ nach dem Roman von Charles Dickens, für die Bühne bearbeitet von David Edgar, in einjähriger Probenarbeit unter der Leitung der Regisseure Trevor Nunn und John Caird entwickelt, wird in zwei Teilen mit einer Gesamtspieldauer von annähernd neun Stunden vorgestellt. 43 Schauspieler verkörpern nicht weniger als 129 Rollen.
Die Bühne des Aldwych Theatre ist durch einen breiten Steg und eine auf Höhe des ersten Ranges umlaufende Galerie mit dem Zuschauerraum verbunden. Die Flut der Ereignisse sprengt den konventionellen Rahmen, widerstrebt jeder räumlichen Begrenzung, schwappt über ins Publikum und hinaus auf die Gänge, überbrückt buchstäblich die Kluft zwischen Spielszene und Zuschauerraum, als wolle sie die ganze Welt zur Bühne eines gewaltigen Spektakels machen. Es ist der Versuch, die grotesken, elenden, lächerlichen, der Wirklichkeit nacherfundenen und melodramatisch überhöhten Gestalten der Welt des Romandichters Charles Dickens zum Leben zu erwecken.
‘Nicholas Nickleby’ ist die Geschichte eines jungen Mannes, der nach dem Tod seines Vaters mit Mutter und Schwester mittellos nach London kommt in der Hoffnung, daß sein Onkel, ein reicher Geschäftsmann, ihnen für Arbeit und Brot sorgen werde, doch dabei die ganze Brutalität der Geschäftswelt, die Skrupellosigkeit der Besitzenden und das Elend der Ausgebeuteten aus nächster Nähe kennen und hassen lernt, den Kampf gegen die Personifikationen des Bösen aufnimmt und nach vielen Abenteuern – wie sonst nur im Märchen, hier in der romantisch-verschwärmten Phantasie des Autors Charles Dickens – einer makellos schönen und tugendhaften Jungfrau zu dem ihr rechtmäßig zustehenden Vermögen verhilft und damit den Grundstein legt für sein eigenes privates Glück sowie den beispielhaften geschäftlichen Erfolg, den ihm jeder Gutmeinende, welcher der verwickelten Geschichte bis zu ihrem guten Ausgang geduldig folgt, dem edelmütigen Helden für sein entschlossen selbstloses Handeln jederzeit aus vollem Herzen gönnen wird.
Was sich an der Inszenierung des ausufernden Werkes bewundern läßt, ist vor allem das schier unterschöpfliche schauspielerische Potential, die Dynamik und Vitalität dieses einzigartigen Ensembles, dem es immer wieder gelingt, durch Virtuosität der Darstellung, die Sorgfalt im Detail und den großen theatralischen Atem sein Publikum, wie hier durch alle Höhen und Tiefen einer komplexen melodramatischen Handlung, selbst über viele Stunden hin im besten Sinne zu unterhalten.
Und das ist, wie mir scheint – bei allem, was sich an dramaturgischen Einwänden gegen das in tausend Episoden zersplitternde Bilderbogenspiel vorbringen ließe – schon viel mehr, als wir heutzutage noch irgendwo als selbstverständlich erwarten dürfen.