die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1992
Text # 272
Autor George Bernard Shaw
Theater
Titel Heartbreak House
Ensemble/Spielort Royal Theatre Haymarket/London
Inszenierung/Regie Trevor Nunn
Hauptdarsteller Paul Scofield/Vanessa Redgrave/Felicity Kendal
Neuinszenierung
Sendeinfo 1992.03.20/SDR/RIAS/DS Kultur/Nachdruck: Darmstädter Echo

“Und das Schiff, in dem wir alle sitzen, dieses Gefängnis der Seelen, das wir England nennen?”, fragt Hector in Shaws Komödie ‘Heartbreak House’ Kapitän Shotover, den Besitzer des Hauses, das allen die Herzen bricht. Shotover erwidert: “Das Schiff wird scheitern und sinken und in Trümmer gehen. Glaubst du, Gottes Gesetze werden zugunsten Englands aufgehoben, weil du darin geboren bist?”.

George Bernard Shaw hat das vor dem ersten Weltkrieg begonnene und 1920 uraufgeführte Schauspiel “eine zornige Komödie” genannt. Ihr Untertitel “Eine Phantasie in russischer Manier über englische Themen” weist einerseits auf das Vorbild Tschechow (Shaw merkt an, Tschechow habe “vier bezaubernde dramatische Vorstudien zu ‘Haus Herzenstod’” verfaßt), andererseits auf die Zielscheibe seiner Kritik, die englische Gesellschaft.

‘Haus Herzenstod’ wird in England selten gespielt. Mag sein, daß die Untergangsstimmung hier allzu vertraut ist, allzu real, und man gerade deshalb das dunkle Gefühl so verzweifelt verdrängt, mit hektischer Betriebsamkeit und (vor allem in diesen Wochen, da sich das Land in den Krämpfen des Wahlfiebers windet) mit einem Optimismus, der umso unglaubwürdiger wirkt, je demonstrativer er zur Schau getragen wird, und den GBS, da möchte man wetten, hätte er noch erlebt, wie das, was sich Sozialismus nannte, in sich zusammenfiel, ohne daß eine neue Utopie erschienen wäre, für deren Erfüllung sich zu leben lohnen würde, nur verlogen genannt hätte. Weil es einfach keinen Grund zum Optimismus gibt und keiner weiß, wie man das Schiff, das führungslos dahintreibt, vor dem drohenden Untergang retten könnte.

Kapitän Shotover hat sein Haus an der englischen Südküste wie ein Schiff bauen und einrichten lassen, durch dessen riesige Heckfenster man hinausschaut aufs Meer, auf dem er in jüngeren Jahren manchen schweren Sturm zu meistern verstand. Nun ist er zu alt, noch das Steuer zu führen, und seine Mannschaft sitzt, wie er sich ausdrückt, untätig auf dem Vorderdeck und verspielt die Zeit. Seine Mannschaft, das sind seine beiden Töchter Hesione und Ariadne, die an Lears Töchter Goneril und Regan erinnern, und die Männer, die zu ihnen gehören. Eine Gesellschaft, die dem Müßiggang frönt, ihr wertloses Leben unbekümmert genießt, während das Unheil heraufzieht. Am Ende fallen die Bomben und treffen Mangan, die böse Karikatur des kapitalistischen Ausbeuters, verschonen aber das Haus.

Der Kapitalist ist tot, die anderen sind noch einmal davongekommen: Wunschdenken des Sozialisten Shaw, der darauf hofft, daß die Überlebenden des Ersten Weltkriegs aus der Katastrophe geläutert hervorgehen, zur Einsicht gelangen und auf den Pfad der Tugend zurückfinden, zu Humanität und sozialer Gerechtigkeit in einer Welt, in denen nicht das Geld, sondern der Geist regiert? Was würde Shaw heute sagen, wenn er sähe, in welchem Maße durch grausame Ironie der Geschichte das absolute Gegenteil verwirklicht worden ist?

Die neue Londoner Inszenierung des Stückes wurde zu einem Ereignis, das in monetaristischen Zeiten sehr rar geworden ist: zur Aufführung eines Werkes von einem modernen Klassiker unter der Regie eines der besten englischen Regisseure, des früheren Intendanten der Royal Shakespeare Company Trevor Nunn, mit einer wirklichen Spitzenbesetzung in einem der traditionsreichsten Theater des Londoner Westends, dem Royal Theatre Haymarket.

Paul Scofield, nach dem Tod von Laurence Olivier neben dem Nestor John Gielgud nun schon einer der ältesten aus der Generation großer Schauspieler, die das englische Theater nach 1945 zum besten in der Welt machten, – Paul Scofield spielt Kapitän Shotover mit tiefer tremolierender Stimme als freundlichen, weisen, ab und zu polternden alten Seebären, der für seine 88 Jahre noch erstaunlich agil wirkt, sich in die innere Emigration des Greisenalters zurückgezogen hat, doch die bunt gemischte Gesellschaft von Tagedieben, die ihn umgibt, durchschaut.

Vanessa Redgrave und Felicity Kendal sind die ungleichen teuflischen Schwestern: die Redgrave mit schwarzer Perücke und dickem, langen Zopf, barfüßig, übermütig ausgelassen, mit feurigem Temperament, ein leicht vulgäres, wildes Weib, das mit allen Männern flirtet und sie dann hängen läßt; die Kendal als Moralität heuchelnde, neurotisch schwadronierende weibliche Schreckschraube.

Im Unterschied zu der witz- und humorlosen, verkrampft modernistischen Inszenierung des Stückes, die zurzeit noch im Deutschen Theater Berlin zu sehen ist, einer Aufführung, bei der sich das Publikum auch nicht ein bißchen amüsieren darf, wirkt die Londoner Inszenierung ausgesprochen komisch, schon weil zunächst einmal jeder Satz des Textes ernst genommen wird. Die jähen Sprünge und plötzlichen Stimmungswechsel erscheinen nicht zufällig, sondern als Ausdruck des irrationalen, absurden Verhaltens der verrückten Personen. Der komische Ausbruch des erst eingeschläferten, dann gnadenlos ausgelachten Kapitalisten Mangan hat tragische Untertöne und erinnert an diesem Punkt an Shakespeares Malvolio.

Überhaupt hält man sich an die Anweisung Shaws, seine Stücke müßten “voll ausgespielt” werden, “mit außergewöhnlicher Energie und Vitalität“. Priestley hat darauf aufmerksam gemacht, daß Shaw seine Dramen “wie Opern ohne Musik“ konstruiert habe. Trevor Nunn erlaubt seinen Schauspielern, das Opernhafte herauszubringen und ihre Texte manchmal wie Arien, Duette, Terzette oder Quartette darzubieten.

Nur im dritten Akt hat man hier und da das Gefühl, daß die Farce zur Posse umzukippen droht und der komödiantische Spaß, den die Schauspieler sich und dem Publikum gönnen, den Ernst der Passagen am Schluß des Stückes, wenn sich die Moral der Geschichte noch einmal in Klartext mitteilt, schwächt.

Die Überlebenden wünschen sich einen zweiten Luftangriff herbei, als Nervenkitzel, der die trostlose Langeweile ihres Daseins unterbricht, oder weil sie ahnen, daß die alte Welt untergehen muß, bevor etwas sinnvolles Neues beginnen kann.

Nach Oben