Der in den Jahren 1958 bis 1960 entstandene Prosatext ‘Der Kopf des Vitus Bering’ gilt als eine der wichtigsten Arbeiten des österreichischen Autors Konrad Bayer, der sich 1964 im Alter von 31 Jahren das Leben nahm. Mit Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Gerhard Rühm und Oswald Wiener war Bayer einer der prominentesten Vertreter der sogenannten ‘Wiener Gruppe’, die sich in den fünfziger Jahren zusammenfand, einem dem Surrealismus nahestehende, doch auch vom Expressionismus und Dadaismus sowie von James Joyce und Gertrude Stein beeinflußte künstlerische Avantgarde, die nach neuen Ausdrucksformen suchte und zum Wegbereiter der ‘Konkreten Poesie’ wurde.
Aus “poetischen Gesellschaftsspielen” entwickelte sich “eine bewußte gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Material Sprache überhaupt” (Gerhard Rühm). Sprache sollte nicht mehr nur Transportmittel von Gedanken sein, stattdessen sollten die Texte als Klangmaterial und Lautstrukturen wahrgenommen werden. Sätze und Wörter wurden aus dem kausalen Zusammenhang gelöst und in neuen alogischen Verbindungen wieder zusammengefügt, wobei sich überraschende Wortfolgen und Bilder ergaben, die die verschiedenen Bedeutungsebenen der Worte offenbarten. Das neue Verfahren der Komposition solcher Texte wurde Montage genannt.
‘Der Kopf des Vitus Bering’ ist eine der längsten Prosaarbeiten Konrad Bayers, die nach dem Montageverfahren entstanden. Es ist ein Text, der irritiert, weil er sich dem Leser, der ihm mit rationalen Mitteln beizukommen versucht, verschließt und ihn zwingt, die passiv konsumierende Haltung, an die er auch im Umgang mit Literatur gewöhnt ist, aufzugeben und sich stattdessen seiner Phantasie zu überlassen. Es ist ein Werk, das auf die aktive Phantasie des Lesers angewiesen ist, in dessen eigenem Kopf der Text gewissermaßen fortgesetzt, weiter gedichtet werden muß.
Er kreist um die Figur des russischen Seefahrers und Polarforschers Vitus Bering, der die nach ihm benannte Meeresstraße zwischen Asien und Nordamerika entdeckte, auf einer seiner Reisen in die arktischen Zonen Schiffbruch erlitt und unter makabren Umständen (es heißt, er habe sich lebendig begraben) starb. Echte und fingierte Zitate aus historischen Schriften, Reiseberichten, Tagebüchern und wissenschaftlichen Aufzeichnungen, ergänzt durch persönliche Kommentare und Reflexionen, sind zu einer ebenso faszinierenden wie verwirrenden Textur verwoben worden.
Bayer benutzt die Figur des Vitus Bering nur als Standort, von dem aus Beziehungen zu anderen Komplexen hergestellt werden: zu Epilepsie und Schamanismus, zu kannibalistischen Riten und Folterpraktiken, zu Essen und Trinken, zu nautischen Theorien. Was zunächst zusammenhanglos und chaotisch erscheint, hat jedoch, wie sich herausstellt, Methode. Die verschiedenen Linien konvergieren im Kopf des epileptischen Forschungsreisenden Bering. Die Schamanen schicken, wenn sie in Trance fallen, Ihren Geist auf die Reise und lassen ihren Körper in epileptischen Verrenkungen zurück. Die Trance ähnelt dem poetischen Akt, der wiederum selbst zum Modell für nicht-rationale Erfahrungsweisen wird, auf die wir angewiesen sind, wenn wir den Text Konrad Bayers verstehen wollen. Ein schwieriges Unterfangen.
Eine Londoner Theatertruppe mit dem Namen Mauser Project (nach Heiner Müllers Stück, dem sie im vergangenen Jahr zur britischen Erstaufführung verhalf) hat den Versuch gemacht, Konrad Bayers schwierigen Text in der englischen Übersetzung von Walter Billeter auf die Bühne zu bringen.
Ich hatte die aus Norddeutschland stammende Annette Schoeder, die seit drei Jahren in London lebt und die Uraufführung des ‘Vitus Bering’ einstudierte, ein paar Tage vor der Premiere getroffen und sie gefragt, in welcher Weise sie den Text szenisch aufbereitet habe. Nein, eine dialogisierte Fassung habe sie nicht herzustellen versucht, meinte sie mit beruhigender Geste, sondern nur den montierten Text auf verschiedene Stimmen verteilt. Man habe darin drei Grundkonstellationen gesehen – eine Szenerie in Sankt Petersburg, eine Schiffsszene und gegen Ende eine Szene auf der Insel, auf der Bering starb. Diese Szenenorte würden jedoch nur vage angedeutet, weil der Text immer wieder dazwischen trete und die Gedanken an andere Orte entführe. Sie hoffe, daß auch die Szenerie “viel Raum für eigene Phantasiebilder” offen lasse.
Das Bühnenbild besteht aus einer etwa vier Meter langen Rampe, zu der eine Anzahl Stege führen, und einem im Hintergrund aufgestellten hohen, transparenten Segeltuch, vor oder hinter dem die fünf Darsteller (vier Männer und eine Frau) beziehungslos und mit fast unbeweglichen Gesichtern stehen, sitzen, liegen, auf- und abgehen oder in halber Höhe an einem Schiffsstau hängen. Sie sprechen mit monotoner Stimme. Die Titel der 87 Textabschnitte werden wie von einem Roboter kommend über Lautsprecher angesagt.
Dabei macht der Zuschauer, der den Originaltext kennt, die bestürzende Erfahrung, daß er durch die optische, akustische und choreographische Aufbereitung nichts gewinnt, die faszinierende Vieldeutigkeit und die die Vorstellungskraft beflügelnde Offenheit des Textes dagegen auf die eine konkrete Weise, in der man ihn gesprochen hört, eingeengt und der Phantasie alle anderen Möglichkeiten, alle anderen Wege, das Geschriebene zu verstehen, versperrt werden. Und das kann eigentlich nicht im Sinne des Erfinders, im Sinne des Autors gewesen sein.