die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1991
Text # 338
Theater/ Kulturpolitik
Titel European Theatre Symposium
Ensemble/Spielort Institut Français/London
Sendeinfo 1991.06.04/SWF Kultur aktuell/WDR/RIAS/DS Kultur 1991.07.11/Darmstädter Echo

Intendanten, Dramaturgen und Regisseure, Autoren, Übersetzer, Theaterwissenschaftler und Journalisten trafen mit Vertretern von Organisationen, die den internationalen Austausch von Künstlern und künstlerischen Vorhaben fördern, im Londoner Institut Français zusammen, um sich darüber zu verständigen, wie man die – auch im Bereich des britischen Theaters noch immer spürbare – Insularität überwinden und den Prozeß der Europäisierung, in den die Briten widerstrebend hineingezogen wurden, beschleunigen könne.

Das Ereignis erinnerte an ein Seminar zum gleichen Thema, das im Dezember 1976 im Londoner Institut für zeitgenössische Kunst (ICA) stattfand. Damals wurde darauf verwiesen, daß fünfzig bis sechzig Prozent der auf deutschen Bühnen vorgestellten Stücke Übersetzungen aus anderen Sprachen seien, während in Großbritannien weniger als drei Prozent der aufgeführten Werke aus nicht-englischsprachigen Ländern stammten.

Im Laufe der letzten fünfzehn Jahre hat sich die Situation nur wenig gebessert. Es werden heute zwar mehr, doch immer noch viel zu wenig ausländische Stücke auf britischen Bühnen gespielt, und meistens nur in den kleineren Theatern. Daß bei dem damaligen Seminar im ICA nur etwa ein Dutzend, bei dem neuen European Theatre Symposium über vierzig Theater vertreten waren, zeigt allerdings, in welchem Maße das Interesse an kontinentaleuropäischen Erscheinungen und das Bedürfnis nach mehr Kommunikation mit ausländischen Künstlern und anderen europäischen Kulturen inzwischen gewachsen ist.

Nach einer Bestandsaufnahme der augenblicklichen Lage, bei welcher vor allem die Schwierigkeiten der Einbeziehung ausländischer Stücke in den Spielplan britischer Theater näher beschrieben wurden (unzureichende Kenntnis von Fremdsprachen, mangelhafte Information von Seiten der Theateragenturen und das Fehlen einer offiziellen Verpflichtung zur Pflege eines internationalen Repertoires) kam es im zweiten Teil des ersten Tages zu einer Debatte über das Thema ‘Brauchen wir Europa?’, eine Frage, die heute selbst in solcher ironisch-rhetorischen Form vermutlich in keinem anderen europäischen Land mehr zur Diskussion gestellt werden könnte, hier aber noch halbwegs ernst genommen und in den Berichten über Erfahrungen bei Auslandsaufenthalten oder gemeinsamen Projekten mit ausländischen Theatern, wie nicht anders zu erwarten, emphatisch bejaht wurde.

Der stellvertretende Leiter des internationalen Zentrums für Theaterübersetzung in Montpellier berichtete, daß man in Frankreich damit begonnen habe, ein Inventar aller wichtigen, bislang nicht ins Französische übertragenen ausländischen Theaterstücke anzulegen und nach systematischer Prüfung ihrer Übertragbarkei gut bezahlte Kommissionen zur Übersetzung dieser Werke zu vergeben.

Dr. Michael Haerdter, der Direktor des Berliner Künstlerhauses Bethanien, nutzte die Gelegenheit zu einer kurzen Beschreibung des “überschätzen, überorganisierten und überfinanzierten” deutschen Theatersystems und seiner Entstehungsgeschichte, ein System, das den in der Feudalzeit gegründeten und noch immer als “moralische Anstalten” geltenden großen staatlichen und städtischen Bühnen in der öffentlichen Wertschätzung besondere Privilegien zugestanden habe und die Pflege eines wirklich internationalen Repertoires als Erfüllung eines öffentlichen Auftrags wahrnehme, durch seine Inflexibilität jedoch eine andere Art von insularer Begrenztheit geschaffen habe, die, weil sie kreative Impulse ersticke und die zahlreichen kleinen Theatergruppen vollkommen an den Rand dränge, ebenso überwunden werden müsse. Im übrigen gelte auch in Deutschland noch immer die Devise: Ausländische Künstler, die bei uns arbeiten wollen, sind willkommen, wenn sie uns etwas geben können und danach wieder ihren Abschied nehmen.

Daß das deutsche Theater unter der Tatsache, zu viel Geld zu haben, leiden könne, wurde von den verarmten Theaterleuten aus Großbritannien staunend-ungläubig und amüsiert zur Kenntnis genommen, weil ein solcher Gedanke jenseits ihres Vorstellungsvermögen liegt.

Umso wichtiger schienen für sie die detaillierten Informationen über die in den letzten Jahren entstandenen Möglichkeiten zu sein, von den Institutionen der europäischen Gemeinschaft in Brüssel Gelder für Projekte zu beschaffen, die auf der Zusammenarbeit von Künstlern mehrerer Länder basieren; eine Förderung, die solche Formen der Zusammenarbeit ermutigt und die finanziellen Löcher, die durch die kunstfeindliche Regierungspolitik in Großbritannien geschlagen wurden, stopfen hilft.

Alle Beteiligten gaben zu verstehen, in diesen Tagen unendlich viel gelernt zu haben. Die zahlreichen Informationen und praktischen Hinweise auf konkrete Möglichkeiten des kulturellen Austauschs seien von unschätzbarem Wert. Man wünsche sich weitere Konferenzen ähnlicher Art (möglichst mit stärkerer Beteiligung von Repräsentanten ausländischer Organisationen), um die Entwicklung der neuen Initiativen zu verfolgen, sich gegenseitig weitere Hinweise zuspielen und wichtige Kontakte untereinander sowie zu ausländischen Institutionen knüpfen zu können.

Eine Dame vom Goethe-Institut (das auch vor fünfzehn Jahren schon das Theaterseminar im ICA ermöglicht und diesmal gemeinsam mit dem Institut Français – ohne jede Unterstützung von britischer Seite – für das Zustandekommen des Symposiums gesorgt hatte) erinnerte daran, das Großbritannien stets zu Europa gehört habe und es eigentlich nur um die Frage gehe, ob man an der Kultur anderer Länder genügend interessiert sei, “genügend neugierig”, um über die eigenen nationalen Grenzen hinausschauen zu wollen.

Immerhin gaben die Teilnehmer dieses Symposiums eindrucksvoll zu erkennen, daß sie dem insularen Denken den Kampf angesagt haben und bereit sind, sich für die weitere Entwicklung persönlich mitverantwortlich zu fühlen.

Eine weibliche Stimme erklärte: Wir sollten endlich aufhören, uns vor der Gefahr zu fürchten, durch Öffnung nach außen die eigene nationale Identität zu verlieren. Wir dürfen uns darauf verlassen, daß wir durch kulturellen Austausch nur gewinnen, uns der nationalen Eigenarten nur umso stärker bewußt werden, uns selber nur umso besser verstehen lernen können.

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