die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1970
Text # 1
Autor William Shakespeare
Theater
Titel The Merchant of Venice
Ensemble/Spielort National Theatre/Old Vic/London
Inszenierung/Regie Jonathan Miller
Hauptdarsteller Laurence Olivier
Neuinszenierung
Sendeinfo 1970.04.30/BBC German Service/Kulturkaleidoskop

Das Nationaltheater ist heute, in seiner siebten Spielzeit, noch immer ein junges Unternehmen. Glanz und Ansehen, das es in diesen Jahren erworben hat, verdankt es nicht zuletzt dem Manne, an den man denkt, wenn man andernorts vom englischen Theater spricht. Wenn Laurence Olivier auf der Bühne erscheint, darf man auf ein besonderes theatralisches Ereignis hoffen.

Shakespeares ‘Kaufmann von Venedig‘ galt seit je als problematisch; dennoch ist das Werk in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in England nach ‘Hamlet’ das meistinszenierte Stück gewesen, eine Tatsache, die sich nicht anders als mit der Attraktivität der Rolle des Juden erklären läßt.

Das Nationaltheater präsentiert das Stück als “Shakespeare in modernem Gewand”, ein Eingriff, der als Mode der Zwanziger- und Vierzigerjahre heute eher etwas veraltet wirkt. Der Versuch, das Stück vom 16. zum Ende des 19. Jahrhunderts zu verlegen, schafft eine während der Aufführung manchmal verblüffende Aktualisierung, geht aber im ganzen nicht auf. Die märchenhafte Kästchenwahl der um die ebenso reiche wie schöne Portia werbenden prinzlichen Freier und die Schauergeschichte vom messerwetzenden Bösewicht, der seinen Anspruch auf ein Pfund Fleisch vom Leib des verhaßten Rivalen gerichtlich durchfechten will, passen einfach nicht in die Zeit. Man sieht und hört in Jonathan Millers Inszenierung ein durchaus neues Stück, das manche einleuchtende Parallele herstellt, neue komische Wirkungen erspielt, vor allem erfreulich viele Hinweise gibt auf die subtileren Beziehungen der Personen zueinander, aber man sieht doch ein Stück, das letztlich nicht überzeugt.

Trotz der venezianischen Baulichkeiten fühlt man sich ins viktorianische England versetzt. Oliviers Shylock ist ein zu großem Wohlstand und entsprechendem Selbstbewußtsein gelangter, intelligenter, scharf kalkulierender Bankier, der sich mit elegantem Gehrock, Zylinder, goldenem Zwicker und gedrehtem Stock sich äußerlich zunächst nicht von seinen Gegnern unterscheidet. Verfolgungen und Schmähungen haben ihn böse gemacht, gehässig und unberechenbar. Er gönnt sich den Spaß, den arroganten Antonio zu demütigen, wenn er ihm die erbetene Geldsumme gegen ein Pfund Fleisch offeriert. Erst der Verlust seiner Tochter, den er als übelsten Raub empfindet, verkehrt den bösen Spaß in blutigen Ernst. Die vornehme Gebärde schlägt um in unverstellten Haß. Wenn er von Antonios Verlusten erfährt, rast er tanzend vor Freude über die Bühne, verfällt im nächsten Augenblick in tiefe, hoffnungslos klagende Trauer um Jessica. Äußerlich ruhig und überlegt, mit dem Anspruch dessen, der sich im Recht weiß, kalt und unerbittlich besteht er vor Gericht auf der Erfüllung des Vertrags. Er ist entschlossen, Antonio zu morden, stellvertretend für alle seinesgleichen, die ihm als Juden Respekt und Anerkennung versagen. Das gnadenlose Urteil, das ihm dafür heimzahlt, zerbricht ihn. Über der Barriere des Gerichts sinkt er zusammen; man hebt ihn auf, führt ihn hinaus. Erst hinter der Szene löst sich der Schmerz in furchtbarem, markerschütterndem Klagegeheul.

Durch Oliviers Größe gerät das Spiel selbst in dieser durchwegs auf die komödienhaften Wirkungen bedachten Inszenierung zum melodramatischen Problemstück und Shylock wird wider Willen zur Zentralfigur der Tragödie des Juden.

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