die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1973
Text # 51
Theater/ Kulturpolitik
Ensemble/Spielort The National Theatre/ London
Inszenierung/Regie Laurence Olivier
Hauptdarsteller Laurence Olivier
Sendeinfo 1973.03.15/SWF Kultur aktuell/ Nachdruck: Darmstädter Echo

Die Nachricht, daß Laurence Olivier die Intendanz des Nationaltheaters vorzeitig an seinen Nachfolger Peter Hall abgeben werde, mag die Öffentlichkeit überrascht haben, kam aber für Eingeweihte nicht mehr ganz unerwartet. Als im April des vorigen Jahres Gerüchte vom Ausscheiden Oliviers noch vor dem Einzug ins neue Theatergebäude sprachen, wurden sie eilig und mit großem Nachdruck dementiert. Olivier erklärte damals, von der Wahl seines Nachfolgers sei ihm noch nichts bekannt und er denke nicht daran, die Leitung des Theaters vor der Eröffnung des neuen Hauses aus der Hand zu geben. Wenig später wurde Peter Hall offiziell als Nachfolger von Laurence Olivier vorgestellt, mit ausdrücklichem Vermerk, daß Olivier zwar die Geschäfte der Intendanz normal weiterführen, Peter Hall aber indessen schon mit der Vorbereitung und Planung für die Zeit danach beginnen werde. Um dem neuen Chef Gelegenheit zum Einarbeiten zu geben, trat Halls Vertrag bereits am 1. Januar 1973 in Kraft.

Das neue Haus sollte ursprünglich bereits in diesem Jahr zu Shakespeares Geburtstag eröffnet werden. Die üblichen ‘unvorhersehbaren Schwierigkeiten’ während der Errichtung des Mammutgebäudes führten zur Verschiebung des Termins auf 1974; inzwischen weiß man, daß das neue Haus des Nationaltheaters am Südufer der Themse nicht vor dem Beginn der Spielzeit 1975/76 bezugsfertig sein wird.

Auf einer Pressekonferenz erklärte Olivier, daß die erneute Verschiebung des Einzugtermins ihn nun doch zu einem vorzeitigen Rückzug bewogen habe. Peter Hall solle am 1. April dieses Jahres als sein Codirektor und ab 1. November offiziell die volle Verantwortung für die organisatorische und künstlerische Leitung des Nationaltheaters übernehmen. Er selbst, Olivier, werde noch in dieser Spielzeit zwei große neue Rollen in modernen Stücken spielen und bleibe überdies dem Theater bis 1974 als beigeordneter Direktor erhalten. Für das Jahr danach bis zur Eröffnung des neuen Hauses habe er sich beurlauben lassen. Ab 1975 stehe er als Schauspieler und Regisseur dem Theater dann wieder voll zur Verfügung.

Der 65 Jahre alte Olivier hat nach den zehn Jahren seiner Intendanz eine Ruhepause mehr als verdient. Sein Nachfolger brennt offenbar darauf, möglichst bald mit der Arbeit beginnen zu können. Eine der wichtigsten Aufgaben des neuen Mannes – neben der Programmplanung für die nächsten Jahre – ist die Vergrößerung des festen Ensembles, das ab 1975 drei Schauspielbühnen gleichzeitig bespielen soll. Denn das neue Haus wird zwei größere Auditorien haben und ein Experimentiertheater: das sogenante ‘Olivier’ mit einer offenen Bühne und 1100 Sitzplätzen, das ‘Lyttelton’ mit Proszeniumsbühne und 900 Plätzen und die Studiobühne mit 300 Sitzplätzen.

Zur Vergrößerung des Schauspielerensembles gehört die Erweiterung des Teams der Bühnenvorstände. Der bisherige Codirektor John Dexter wird in der laufenden Spielzeit noch drei Inszenierungen übernehmen und dann wegen seiner Auslandsverpflichtungen ausscheiden. Michael Blakemore, dessen erfolgreiche Inszenierungen es vor allem zu verdanken ist, daß die Millionen-Defizite des vergangenen Jahres ausgeglichen werden konnten, bleibt als Regisseur und Codirektor weiter im Amt. Neu verpflichtet für das Team der führenden Spielleiter wurden Jonathan Miller, Harold Pinter und John Schlesinger. Sie sollen im nächsten Jahr eine Reihe von Neuinszenierungen erarbeiten, die dann ins neue Haus übernommen werden.

Kenneth Tynan, seit Gründung des Nationaltheaters Chefdramaturg, will seinen Posten an einen noch nicht benannten Nachfolger abtreten und sich nur noch seinen schriftstellerischen Arbeiten widmen.

In der Pressekonferenz, in welcher diese Tatsachen mitgeteilt wurden, ging Peter Hall noch einmal kurz auf die angeblich von der Presse hochgespielten Auseinandersetzungen vor seiner Nominierung ein. Er behauptete, zu keiner Zeit habe es Spannungen zwischen ihm und Olivier gegeben. Er sei stolz auf die ehrenvolle Aufgabe, die Arbeit seines Vorgängers weiterführen zu dürfen, an dessen Seite er als ‘Hauswart’ fungieren wolle, bis man ihm im November die Leitung der Company übergeben werde, die schon bald den ‘besten Theaterkomplex der Welt’ ihr eigen nennen solle.

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