die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1983
Text # 182
Autor William Shakespeare
Theater
Titel King Lear
Ensemble/Spielort Channel 4 TV
Inszenierung/Regie Michael Elliott
Hauptdarsteller Laurence Olivier
Sendeinfo 1983.04.09/SFB/SR 1983.04.11/ORF Wien/Nachdruck: Darmstädter Echo

Für die meisten von denen, die ihn zeitlebens bewunderten, wird Laurence Olivier, was immer geschehen mag, der Größte bleiben, ein Schauspieler, der nicht nur als Shakespearedarsteller kaum je seinesgleichen hatte, sondern auch in den bedeutendsten seiner modernen Rollen schier unvorstellbare Wirkungen erspielte. Durch die Möglichkeit der Verfilmung von Bühnenstücken gelang es, etwas von der einzigartigen Faszination der flüchtigen Kunstform Theater, von der elementaren Gewalt und sinnlichen Schönheit unwiederbringlicher Augenblicke festzuhalten. Dies gilt hier vor allem für einige der großen Shakespeare-Rollen Oliviers, seinen Heinrich V, Hamlet, Richard III, Othello und Shylock. Dem ungefilmten Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze.

Dies ist jedoch nicht der eigentliche Grund dafür, daß wir die letzte große Shakespeare-Rolle Oliviers – seinen Lear – nur in einer Fernsehinszenierung bewundern durften. Wegen seiner angegriffenen Gesundheit war Olivier schon seit Jahren den Anforderungen einer Bühnenaufführung nicht mehr gewachsen. Daß der durch vielfache schwere Erkrankungen und die extremen Belastungen seines Berufes deutlich gezeichnete 75-jährige Doyen des britischen Theaters überhaupt noch überredet werden konnte, die gewaltige Rolle (die er nur einmal, vor fast vier Jahrzehnten, damals noch im Vollbesitz jugendlicher Kraft, als 39-jähriger gespielt hatte) zu übernehmen und daß er, der so oft von der mit den Jahren wachsenden Angst vor dem Publikum gesprochen hatte, den Mut dazu fand und die Energie, eine solche Aufgabe zu meistern, war schon an sich mehr als ein kleines Wunder. Daß der neue Lear des alten Olivier nicht als eine seiner größten Leistungen in die Theatergeschichte eingehen wird, war dagegen schon beinahe irrelevant.

Denn obwohl die monumentale Gewalt, die elektrisierende körperhafte Ausstrahlung dem athletischen, früher halsbrecherisch wagemutigen Schauspielerartisten nicht mehr zu Gebote stand, beeindruckte Olivier erstaunlicherweise noch immer, doch diesmal vor allem durch Menschlichkeit, die Gebrechlichkeit, Verwundbarkeit und physische Schwäche des Greises, der er inzwischen selbst geworden war. “Ich bin Lear”, soll er während der Aufnahmen irgendwann zu seinem Regisseur Michael Elliott gesagt haben: Laurence Olivier, ein König, der dem Thron entsagte, in diesem Fall ihm, durch Krankheit und Alter gezwungen, entsagen mußte.

Olivier ist in der Tat Lear auf eine ebenso ergreifende, wie mit professionellen Maßstäben kaum noch wägbare Weise: ein alter, gebrochener Mann, nur noch der Schatten seiner einstigen Größe, die hier und da für kostbare Sekunden durchbricht wie fernes Wetterleuchten nach dem großen Sturm. Erschütternde Augenblicke im Ausdruck der Einsamkeit und Hinfälligkeit des Alters, Augenblicke voll Zartheit und Poesie; das Schauspiel eines dermaleinst großen alten Mannes, der an der Gemeinheit der Menschen, denen er alles gab, was er besaß, den Verstand verliert.

Die Londoner Kritiker feierten das Ereignis schon jetzt fast wie eine Abschiedsvorstellung, voller Respekt und Bewunderung für Laurence Olivier, der hier nicht nur noch einmal mutig über sich selbst hinauszuwachsen schien und in einem Starensemble noch immer höchst ehrenvoll bestand, sondern auch die Schwächen einer erbärmlichen Inszenierung zu überspielen hatte, die so verstaubt und vorgestrig wirkte, als habe man sie in einer Truhe im hintersten Winkel des vorigen Jahrhunderts gefunden und für diesen Anlaß mit den schaurig melodramatischen Klängen einer scheußlichen Stummfilmmusik, die sich als akustischer Brei über die meisten Szenen wälzt, aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt.

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