die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1995
Text # 363
Autor Virginia Woolf/Darryl Pinkney & Robert Wilson
Theater/ Edinburgh Festival
Titel Orlando
Ensemble/Spielort Edinburgh International Festival
Inszenierung/Regie Robert Wilson/Musik: Hans Peter Kuhn
Hauptdarsteller Miranda Richardson
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1996.08.24/SWF Kultur aktuell/WDR/DR/Nachdruck: Darmstädter Echo

Nachdem Robert Lepages Inszenierung ‘Elsinore – Variationen zu Hamlet’ wegen unlösbarer technischer Probleme ausgefallen war, blieb von den erwarteten schauspieltheatralischen Höhepunkten der ersten Woche des fünfzigsten Edinburgh International Festival nurmehr die britische Erstaufführung von ‘Orlando’ nach Virginia Woolf in der Bühnenfassung von Darryl Pinkney und Robert Wilson in Robert Wilsons Inszenierung mit der Musik von Hans Peter Kuhn und Miranda Richardson als Darstellerin der Titelrolle; eine Aufführung, die alles andere ringsum vergessen ließ und ohne Zweifel zum Besten gehört, was das schottische Festival in den letzten Jahren zu bieten hatte.

Anderswo, vor allem in Deutschland, gelte er als Visionär, ein Riese des Welttheaters, in Großbritannien dagegen zeige man ihm immer noch die kalte Schulter und wisse nicht viel mit ihm anzufangen, schrieb eine englische Tageszeitung über den amerikanischen Regisseur Robert Wilson vor der Premiere von ‘Orlando’ in der ersten Festivalwoche. Die in derselben Zeitung zwei Tage später veröffentlichte Kritik zur Aufführung bewies, in welchem Maße die durch Wilsons Inszenierungen ausgelöste Verunsicherung hierzulande anhält.

Wilsons Beschäftigung mit ‘Orlando’ reicht zurück bis in die siebziger Jahre, als er sich mit dem Gedanken trug, eine Oper daraus zu entwickeln. Ihn faszinierte Virginia Woolfs “visuelle Sprache” und ihr Versuch, eine poetische Geschichte Englands zu schreiben und daraus eine Art Selbstporträt zu machen. Statt einer Oper entstand später etwas, das (mit Vorbehalt gegenüber der Herkunft des Wortes) als ein szenisches Gesamtkunstwerk zu beschreiben wäre.

‘Orlando’ ist die Geschichte eines adeligen jungen Mannes, der von Elisabeth I geliebt wird und ohne zu altern viele Jahrhunderte überdauert, sich mit einer russischen Prinzessin verlobt, zum türkischen Botschafter ernannt und mit Orden und Ehrenzeichen überhäuft wird, sich dann aber zu seiner eigenen Verwunderung in eine Frau verwandelt und schließlich als Schriftstellerin bis in die Zwanzigerjahre unseres Jahrhunderts lebt, als die englische Autorin Virginia Woolf den ihrer Freundin Vita Sackville-West gewidmeten Text, “den längsten und bezaubernsten Liebesbrief der Weltliteratur”, niederschrieb.

Die Schwierigkeiten der Briten im Umgang mit Robert Wilson mögen dazu beigetragen haben, daß es erst sieben Jahre nach der deutschen Inszenierung mit Ute Lemper und drei Jahre nach der Pariser Premiere mit Isabelle Huppert zur britischen Erstaufführung eines Stückes kommt, das so viel mit England, den Briten und ihrer Geschichte zu tun hat.

Miranda Richardson sah die französische Fassung und bot sich Wilson für eine englische Inszenierung an. Aus der kongenialen Partnerschaft kam eine Aufführung zustande, die sich von ihren Vorgängern in vielem unterscheidet und durch die im Theater ganz selten erlebte totale Kontrolle über alle Elemente – Licht, Ton und Bewegung, alle gestischen und vokalen Äußerungen – sowie durch die Präzision ihrer Ausführung an die perfekte Realisierung eines musikalischen oder tanztheatralischen Werkes erinnert.

Miranda Richardsons schauspielerische Virtuosität ist mit Worten kaum zu beschreiben. Bekannt geworden vor allem durch eine Reihe emotionsgeladener Filmrollen, wird ihr eine chamäleonartige Verwandlungsfähigkeit nachgesagt. “Sie ist eine sehr offene, sehr intelligente Person“, meint Robert Wilson. “Da ist nichts Künstliches an ihr. Was sie tut, kommt ganz natürlich, von tief innen”.

Selten erlebt man, daß ein europäischer Schauspieler seinen Körper und seine Stimme so perfekt beherrscht wie der geniale Musiker sein Instrument. Richardson hat die Geschmeidigkeit eines Tanzvirtuosen, die Präzision der großen japanischen Noh-Darsteller und die stimmlichen Mittel einer Sängerin, die Worte in Klänge zerlegen oder die ungewöhnlichsten Vogellaute hervorbringen kann.

“Ich beginne mit der Bewegung“, sagt Wilson, “und entscheide dann, welcher Text zu der Bewegung gehört”. “Ich liefere das Knochengerüst einer Aufführung, der Darsteller das Fleisch“.

Miranda Richardson meint dazu: “Ich habe nichts dagegen, mich als Struktur zu verstehen. Wilson arbeitet wie ein visueller Künstler. Er liefert die Form, ich die Gefühle“.

Was Wilsons Theaterarbeit von der gängigen Praxis unterscheidet, ist die bewußte Vermeidung jeder Verdoppelung. Miranda Richardson erklärt: “Virginia Woolfs Text ist sprachlich so reich, so überladen, daß man das alles nicht auch noch mit anderen Mitteln ausgedrückt haben möchte”. Das in Worten Sagbare bedarf nicht mehr der wiederholenden Geste, wie umgekehrt. Dies gilt für alle übrigen Elemente der Inszenierung. Ziel ist die absolute Form.

Dies im Theater zu erleben, wo es oft noch so chaotisch-natürlich, pseudo-realistisch zugeht, so improvisatorisch locker und undiszipliniert, wie dies bei der Aufführung eines musikalischen Werkes nie der Fall wäre, macht die große Faszination solcher Arbeiten aus und provoziert durch solche Konsequenz der Formalisierung den Widerstand derer, die – wie viele der britischen Kritiker – eine Theaterinszenierung, bei der die Gefühle nicht an der Oberfläche liegen, für “kalt”, “überstilisiert”, “prätentiös”, “selbstgefällig” oder “leblos” halten.

“Emotion muß aus dem tiefsten Inneren kommen”, sagt Robert Wilson. Und: “Nur was wir fühlen ist wahr”.

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