die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1975
Text # 300
Autor Charles Marowitz
Theater
Titel Artaud at Rodez
Ensemble/Spielort Open Space Theatre/London
Inszenierung/Regie Charles Marowitz
Uraufführung
Sendeinfo 1975.01.21/DLF

‘Artaud at Rodez’ von Charles Marowitz, aufgeführt im Londoner Open Space Theatre, rekonstruiert Aspekte einer Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk des Antonin Artaud, zu dessen später Wiederentdeckung der Autor und Regisseur Marowitz nicht unwesentlich beigetragen hat. Gemeinsam mit Peter Brook und Schauspielern der Royal Shakespeare Comapny hatte Marowitz 1964 eine Serie von szenischen Experimenten durchgeführt, die Artauds revolutionäre Ideen um den Begriff des sogenannten Theaters der Grausamkeit auf ihre praktische Verwendbarkeit testen sollten. Brooks Inszenierung des ‘Marat/de Sade’ von Peter Weiss als Abschluß und Höhepunkt der Experimente im Bereich der Artauschen Vorstellungen hatte weitreichende Folgen. Der Begriff ‘Theater der Grausamkeit’ war plötzlich in aller Munde, stiftete Verwirrung, führte zu zahllosen Mißverständnissen, aber auch zur Entdeckung neuer theatralischer Möglichkeiten. Der Mythos um die Gestalt des Mannes verdichtete sich.

Antonin Artaud, geboren 1896 in Marseille, gestorben 1946 in Paris, war sicher eine der genialsten und unglückseligsten Künstler seiner Zeit, unverstanden, verspottet, verkannt, doch wegen der Radikalität seiner Kritik von den Säulenheiligen des traditionellen Theaterbetriebs gefürchtet und gehaßt. ‘Artaud at Rodez’ spiegelt die letzten Lebensjahre des Poeten, der nach katastrophalen Mißerfolgen als Autor, Schauspieler und Regisseur 1936 nach Mittelamerika auszuwandern versuchte, um mit den dortigen Eingeborenen zu leben, sich 1937 auf der Suche nach den mystischen Offenbarungen der frühen Druiden nach Irland begab, dort wieder ausgewiesen, kurz darauf festgenommen und für geisteskrank erklärt wurde. Die folgenden sieben Jahre verbrachte Artaud in verschiedenen französischen Heilanstalten, bis 1943 Freunde dafür sorgten, daß er in das Sanatorium von Rodez überwiesen und drei Jahre später in private Pflege entlassen wurde.

Gerüchte ranken sich um das Verhältnis zwischen dem Patienten und seinem Arzt Dr. Gaston Ferdiere, selbst ein Mann mit literarischen Interessen, der sich ausdrücklich zur totalen künstlerischen Freiheit bekannte, seinen berühmten Patienten jedoch intensiver Behandlung mit Elektroschocks und anderen physisch-psychischen Foltermethoden aussetzte, die darauf ausgerichtet waren, den ungebärdigen Geist zu brechen und seine schöpferische Potenz systematisch ruinieren mußten.

Das Stück besteht aus einer losen Folge von Szenen, die Artaud im Konflikt mit seiner Umwelt zeigen, Dialogen mit Freunden, die ihm zu helfen versuchen, und Gegnern, die weniger sein exaltiertes Betragen, als seine Gedanken für gefährlich zu halten scheinen. Dazwischen Szenen, die immer wieder die Diskrepanz zwischen offiziellen Stellungnahmen und der Verfassung der Innenwelt des Kranken beleuchten und dabei die Möglichkeit unterstellen, daß Artaud das Opfer einer psychiatrischen Behandlung wurde, die mit grausamsten Mitteln geistige Potenz zerstört, Persönlichkeiten ausradiert, statt behutsam zu heilen, wo Heilung noch möglich ist.

Marowitz hat eine halbdokumentarische Collage hergestellt aus historischen Fakten, Artauds Erinnerungen, Aussagen seiner Zeitgenossen, medizinischen Gutachten Dr. Ferdieres und anderer Ärzte, wirklichen und imaginierten Begegnungen mit Gleichgesinnten und geistigen Antipoden. Der ekstatische Darstellungsstil – ausgespielte Grausamkeiten, exaltierte Bewegungen, starre Posen, gewaltsame Ausbrüche, tierische Schreie – wirkt wie die praktische Demonstration von Ausdrucksformen des Artaudschen Theaters, das, wie Marowitz meint, uns heute so fasziniert, weil es gegen allen Anschein realistischer sei als das konventionelle Theater, näher am realen Gefühl von Gewalt, das unser Tun und Trachten bestimme, und weil es darüber hinaus den Keim zu einer neuen Ästhetik enthalte.

‘Artaud at Rodez’ ist das Produkt der sehr persönlichen Auseinandersetzung des Autors und Regisseurs Marowitz mit einer historischen Erscheinung, die seinen eigenen Begriff von kreativem Theater maßgeblich beeinflußt zu haben scheint und der er mit diesem Stück seine Referenz erweist.

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