die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1975
Text # 80
Autor Pip Simmons
Theater
Titel An die Musik
Ensemble/Spielort Pip Simmons Theatre Group/Institue for Contemporary Arts (ICA)/London
Inszenierung/Regie Pip Simmons
Sendeinfo 1975.07.05/SWF Kultur aktuell Nachdruck: Darmstädter Echo/National-Zeitung Basel

Die Pip Simmons Theatre Group, eine der besten, künstlerisch produktivsten und einflußreichsten Gruppen der englischen Theateravantgarde, ist nach zweijähriger Abwesenheit nach London zurückgekehrt, wo ihre jüngste Inszenierung zu einem neuen, überragenden Erfolg wurde.

‘An die Musik’ (so auch der Titel im englischen Original) ist ein Requiem für die in deutschen Konzentrationslagern ermordeten Juden, ein unendlich böses, entsetzliches Schauspiel von Greueln, die Menschen an Menschen begehen. ‘An die Musik’ zeigt die sukzessive Animalisierung von Menschen in der Rolle von Opfern und Henkern. Der Titel des in Rotterdam erarbeiteten Werkes wurde dem gleichnamigen Musikstück von Schubert entlehnt, das es auf dem Höhepunkt grausam ironisch parodiert.

Schon die ersten Takte signalisieren das Grauen, ein Grauen, das in unbeschreiblich lang gezogenem Crescendo sich bis zur letzten Szene steigert, jener furchtbaren Parodie auf einen Trauermarsch, den die Opfer sich selbst aufspielen, bis der Tod sie von ihren Qualen erlöst.

‘An die Musik’ beginnt mit einer sogenannten Operetta, überschrieben ‘Traum der Anne Frank’, einer pantomimischen Groteske im Darstellungsstil des frühen Caligari-Films zu einer an jüdische Klagegesänge erinnernden Musik. Eine jüdische Familie läßt sich zum zeremoniellen Abendmahl nieder: geifernde, abscheulich dekadente Gestalten vom ‘Stürmer’-Zuschnitt, die sich auf perverse Weise gegenseitig gängeln, mißbrauchen, quälen und die Gefahr nicht zu ahnen scheinen, die sie umgibt, symbolisiert in der Gestalt eines SS-Mannes, der Ihnen zunächst noch relativ harmlos in der Manier eines präpotenten Dieners aufwartet, im weiteren Verlauf jedoch zusehends zum Folterknecht wird, der seinen Gästen Exkremente und Menschengebeine serviert, sie ihrer Wertgegenstände beraubt und den Vater, als er in wilder Panik davonstürzt, erschießt.

Der zweite Teil springt jäh in die Realität. Die Personen erscheinen in Sträflingskleidung und werden von einem veritablen SS-Schinder durch zahllose Demütigungen, Quälereien und Foltern systematisch entmenscht. Sie müssen Stücke von Liszt, Beethoven und Schubert spielen, singen, tanzen und lachen, sich gegenseitig quälen, deformieren, zerstören bis auf den Grund, auf dem es nur noch animalische Reaktionen gibt.

Die erzwungenen Darbietungen der Häftlinge werden wie Schaustücke vor einem Publikum präsentiert, das sich an den Qualen der Geschundenen weiden will. Die direkten Adressen an das reale Publikum vor der Bühne machen es zum Komplizen der Gewalt, die in orgiastischen Exzessen ihre Allmacht demonstriert.

Schrecken und Angst, die uns erreichen, überholen die Erinnerung an historisch Vergangenes, ans Dritte Reich; sie erscheinen als unmittelbare Bedrohung, als Signale der Gegenwart, in der die Greuel von Menschen an Menschen nicht aufgehört haben.

“Es ist kein Stück über die Deutschen“, sagte Pip Simmons nach der Vorstellung. Es ist ein Stück über unsere Zeit.

Die inszenatorische und schauspielerische Leistung der Gruppe, die durch Vehemenz ihres politischen Engagements, Formgefühl, artistisches Können, Präzision der Darstellung und bewundernswerte Musikalität sich seit jeher auszeichnet, grenzt ans Unglaubliche.

Während die nackten Opfer sich selbst den Todesmarsch spielen, strömt zischend weißer Nebel aus den Kanülen.

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