die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1983
Text # 190
Autor Heinrich von Kleist
Theater
Titel Penthesilea
Ensemble/Spielort Gate at the Latchmere/London
Inszenierung/Regie Michael Batz
Hauptdarsteller Susannah York/Paul Moriarty
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1983.11.27/SFB 1983.11.28/SWF Kultur aktuell/RB/DLF 1983.12.02/WDR/SRG Basel

Heinrich von Kleist, so lernten wir in der Schule, sei der größte Dramatiker der deutschen Sprache. 1808 erschien seine ‘Penthesilea’. Der Kleistforscher Gerhard Fricke nennt das Stück des Dichters “gewaltigste Tragödie, die großartigste, die wir Deutschen besitzen“. 68 Jahren mußte das Werk auf seine Berliner Uraufführung warten. 175 Jahre hat es gedauert, bis “die gewaltigste Tragödie“ des größten deutschen Bühnendichters zum ersten Mal auf eine britische Bühne gelangte.

Als das Nationaltheater vor anderthalb Jahren den ‘Prinzen von Homburg’ vorstellte, lobten die englischen Kritiker die Gelegenheit, den (ich zitiere) “kaum bekannten deutschen Autor Heinrich von Kleist” kennenzulernen. Einer von ihnen, der ihn bereits zu kennen schien, schloß seinen Bericht über die fragwürdige Inszenierung mit den Worten: “Kleist ging uns auf traurige Weise verloren”.

‘Penthesilea’ gehört natürlich auf eine große Bühne, und das Nationaltheater wäre der Ort, wo man dem Werk in seiner monumentalen Größe zu einer adäquaten Aufführung verhelfen könnte. Intendant Peter Hall zieht es indessen vor, in amerikanische Musicals zu investieren, die, wie wir wissen, auch wenn sie künstlerisch keinen Pfifferling wert sind, reiche Renditen bringen können. So bleibt es denn wieder mal einem der von Idealismus, Lust und Liebe, doch – wie in diesem Fall – ohne reguläre Subventionen existierenden Kleinsttheater überlassen, der ‘Penthesilea’ des hierzulande wirklich noch unbekannten Autors Kleist die Ehre einer ersten Aufführung zu geben.

Michael Batz, ein junger, in England ausgebildeter deutscher Regisseur, der bis 1981 am Bristol Old Vic tätig war und sich inzwischen der Aufgabe verschrieben hat, dem Nachholbedarf der Briten im Hinblick auf kontinentaleuropäische Dramatik ein wenig auf die Sprünge zu helfen, – Michael Batz ist es zu verdanken, das Kleists ‘Pethesilea’ in dem kaum 100 Plätze fassenden Südlondoner Theaterchen Gate at the Latchmere erstmals in englischer Sprache vorgestellt wird, ein Projekt, das sich wegen der begrenzten finanziellen räumlichen Verhältnisse nur en miniature realisieren ließ: mit vier weiblichen und vier männlichen Darstellern, die alle wichtigen Rollen der personenreichen Tragödie spielen müssen. Es ist ein Unterfangen, das, gerade weil es nur scheitern, sich bestenfalls als akzeptablen Versuch mit untauglichen Mitteln am tauglichen Objekt bewähren konnte, Bewunderung verdient. Mit Susannah York in der Titelrolle und dem RSC- und Nationaltheaterschauspieler Paul Moriarty als Achill schien das Wagnis kalkulierbar geworden.

Was unter solchen Bedingungen nach nur dreiwöchiger Probenzeit zustande kam, ist in mehrfachem Sinne bemerkenswert. Die von der BBC in Auftrag gegebene und 1971 im britischen Hörfunk ausgestrahlte freie Prosaübersetzung des Dichters Robert Nye bedient sich einer zunächst aggressiv wirkenden modernen Sprache, ohne Scheu vor Anachronismen, modischen Redewendungen oder gängigen Kraftausdrücken; einer Prosa, die natürlich kein Äquivalent für Kleists unübertreffliche Verssprache liefern kann, doch in den lyrischen Passagen einen eigenen poetischen Klang hat und für eine Inszenierung auf kleinstem Raum, die auf große theatralische Gesten verzichten muß, durchaus brauchbar erscheint.

Michael Batz hat sich ein einfaches Bühnenbild bauen lassen, welches aus kegelförmigen Gebilden und einem mit Tarnzeug behängten Gerüst besteht, das sich als Laufsteg benutzen läßt. Trotz der notwendigen Beschränkung auf acht Darsteller ist der Text, wie mir schien, ungekürzt. Viele der Szenen spielen im Halbdunkel, was den Darstellern den mehrfachen Rollenwechsel erleichtert und auf das gesprochene Wort konzentriert.

Eine Aufführung der ‘Penthesilea’ steht und fällt natürlich mit der Besetzung der Titelrolle, und hier zeigt sich, daß der knabenhafte Liebreiz des internationalen Filmstars Susannah York für die schwierige Aufgabe einfach nicht ausreicht. Und da Paul Moriarty auch nicht gerade so aussieht, wie man sich das Ebenbild eines jungen Gottes vorstellt, und er mit der großen Leidenschaft eines Liebenden seine Schwierigkeiten zu haben scheint, fehlt es an jener zentralen erotischen Spannung, ohne die das Verhältnis Penthesilea-Achill und das schaurige Ende des Stückes sich nicht verstehen lassen.

Ich sagte, die Aufführung sei bemerkenswert: sie ist es – allen Unzulänglichkeiten zum Trotz – als ein unter den gegebenen Umständen rühmlicher Versuch, der die theatralische Potenz der gewaltigen Dichtung immerhin ahnen läßt und den großen Theatern zum Wegweiser werden könnte.

Wegen eines Streiks der Drucker hatten die meisten der Londoner Kritiker noch keine Gelegenheit, sich zur britischen Premiere der ‘Penthesilea’ zu äußern. Aus den ersten Kommentaren spricht einige Ratlosigkeit. Im ‘Daily Telegraph’ beglückwünscht John Barber das Gate at the Latchmere zu dem Mut, das “schwerfällig bombastische Drama” auf die Bühne zu bringen. Nichts sei so aktuell wie “der Konflikt zwischen der von einer Krieg führenden Gesellschaft auferlegten unmenschlichen Pflicht und dem natürlichenen menschlichen Impuls, sich den verzerrten Werten der Gesellschaft zu widersetzen”. Barber meint: “In Robert Nyes Übersetzung, wie im Original, fehlt es den großen leidenschaftlichen Reden an intellektueller Substanz”. Alles in allem sei die Inszenierung “von größtem Interesse und überaus sehenswert”. – Der Kollege von der ‘Financial Times’ nennt die Übersetzung wegen ihrer modisch-saloppen Wendungen “fesch”. “Versuche, ein heroisches Drama in ein Schuhkarton-Theater zu zwängen, werden zuweilen als lächerlich empfunden”. Als “Aussage über moderne Kriegführung oder den Kampf der Geschlechter” bleibe das Stück “obskur”.

Nach Oben