die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 139
Autor People Show
Theater
Titel People Show 77
Ensemble/Spielort People Show/Oval House/London
Inszenierung/Regie People Show
Sendeinfo 1978.11.03/WDR/RB/ORF Wien

Seit über zehn Jahren gehört die People Show zur Spitze der britischen Theateravantgarde. Von welcher anderen Gruppe ließe sich Ähnliches sagen? Die People Show hat eine eigene Form von poetischem Theater entwickelt, das die engen Grenzen der Gattung sprengt und in Bereiche der reinen Poesie vordringt. Theater wird wieder zum Abenteuer mit endlos neuen Überraschungen. Das Publikum ist eingeladen auf eine Reise in eine Wunderwelt seltsamer Begebenheiten, nach deren Ende es glücklicher, freier, vom Dust des Alltags geläutert nach Hause zurückkehrt.

Ich werde nie vergessen, welches Unbehagen mich beschlich, als ich zum ersten Mal einer Vorstellung der People Show beiwohnte. Da war eine Handvoll junger Leute, die sich ganz und gar anders verhielten als man es von Schauspielern im Theater gewohnt war. Jeder, der mit einer bestimmten Erwartung des mehr oder minder Üblichen gekommen war, wurde enttäuscht. Es kam darauf an, sich zunächst einmal von alten Vorurteilen zu befreien. Der Zuschauer mußte sich einlassen auf ein Spiel, das ihm nicht (wie ihm das anderswo vielleicht widerfahren war) die Persönlichkeit raubte, seine Hingabebereitschaft unbotmäßig mißbrauchte, ihn überwältigte, sondern ihm vielmehr mit großer Behutsamkeit neue Sphären erschloß, um ihn am Ende unbeschädigt und fühlbar bereichert wieder zu sich selbst zu entlassen.

Die Gruppe besteht aus fünf Darstellern, die sich selbst, ihre Phantasien, Sehnsüchte und Ängste nach einem vorher festgelegten Plan szenisch projizieren. Um die Assoziationsfähigkeit des Zuschauers nicht zu beschränken, verzichtet man auf Titel: die verschiedenen Inszenierungen werden fortlaufend nummeriert, wie Bilder einer Serie im Bereich der ungegenständlichen Malerei – mit welcher die Spiele der People Show auch sonst gar manches verbindet.

Die People Show 77, soeben vorgestellt im Oval House, beginnt mit einem Trompeten-Prolog im Foyer, wonach das Publikum zu einer kleinen Promenade aufgefordert wird. Fünfzig, sechzig Menschen Folgen einem Trompeter nach draußen über einen dunklen Hinterhof und nach zwei kurzen Aufenthalten an einer mysteriösen Grabstätte und an der lebhaft befahrenen Straße wieder zurück ins Innere des Hauses in einen Saal, der im Schein der zahllosen, in langen Reihen aufgestellten Kerzen wie eine Kirche wirkt. Nachdem uns eine Blaskapelle einen feierlichen Choral gespielt hat, verwandelt sich die Szene durch bloßen Stimmungswechsel in eine Art Revuebar. Zwei Oberkellner (oder was wir dafür halten könnten) fordern die Männer, die ohne Krawatte erschienen sind, auf, einen der für diesen Zweck zur Verfügung gestellten Schlipse umzulegen, bevor sie an einem der nummerierten Tische Platz nehmen dürfen. Beeillung, Beeilung, das Cabaret werde gleich beginnen.

Während die beiden Ober die Tische decken und schmücken und ihren Gästen Getränke servieren, haben zwei Musikanten auf dem Podest im Vordergrund zu spielen begonnen. Zwei Mädchen erscheinen, ein Bleichgesicht und eine Schwarze. Sie werden beschimpft, zur Kasse gebeten, mißhandelt. Ein Gefühl von erbarmungsloser Gewalt der einen über die Ohnmacht der anderen stellt sich ein; Abhängigkeitsverhältnisse, Ausbeutungsverhältnisse, die gleichwohl – wie wir in einer späteren Phase beobachten – sich umkehren können. Assoziationen zur Tragik des alternden Künstlers, der ausgedient hat und abdankt, abgeleckt und ausgespuckt wie die leere Hülse einer exotischen Frucht, am Ende trostlos allein, während das Leben weitergeht, Straßengeräusche wie Meereswogen; bis die melodramatische Stimmung noch einmal umschlägt in Übermut, die traurigen Weisen des Blues gehen über in wilden Dixieland; Leben erneuert sich und vergißt die Leiden der Vergangenheit in Augenblicken der Illusion von unvergänglichem Glück.

Wir sind am Ende der Reise. Oder ist es ein Anfang?

Die People Show liefert poetische Bilder ohne Moral, die uns erscheinen wie sinnliche Träume aus den Bereichen des Vorbewußten, die im Bewußtsein vor Anker gehen, Sinnbilder ohne Hinter-Sinn.

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