die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1976
Text # 99
Autor Peter Brook/Dennis Cannan & Colin Higgins
Theater
Titel The Ik (Les Iks)
Ensemble/Spielort Centre International de Création Théâtrale (CICT) /Roundhouse/London
Inszenierung/Regie Peter Brook
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 976.01.16/SWF Kultur aktuell/WDR/SFB Nachdruck: Darmstädter Echo/National-Zeitung Basel

Wochenlang war es im Gespräch, das kommende große Ereignis: die Rückkehr Peter Brooks nach London mit der in Paris erarbeiteten Inszenierung ‘The Ik’. Vorberichte und Interviews in Presse, Rundfunk und Fernsehen weckten Erwartungen auf eine neue theatralische Sensation. Beim ‘Sommernachtstraum’ hatte man sich in Stimmung gejubelt; noch fünf Jahre später genügte die bloßen Nennung des Namens, um enthusiastische Vorfreuden zu provozieren.

In seinem 1970 gegründeten ‘Internationalen Zentrum für Theaterforschung’ in Paris hatte Brook – neben systematischen Experimenten um die elementaren Ausdrucksmittel des Theaters und Studienreisen nach Vorderasien, Afrika und Amerika – unter anderem zwei größere Inszenierungen entwickelt, Shakespeares ‘Timon von Athen’ und ein sogenanntes ethnologisches Schauspiel mit dem französischen Titel ‘Les Iks’, das, wie es hieß, eine Wende bedeute für Brook und das Theater der Gegenwart.

Die Ik sind ein Volksstamm in Norduganda, der 1946 seine heimatlichen Jagdgründe verlor, als man das Gebiet zum Nationalpark erklärte. Die plötzliche gewaltsame Umstellung der Lebensweise von Wildbeuterei auf Feldbau – eine Kulturleistung, für die andere Gesellschaften Jahrhunderte oder Jahrtausende brauchten – wurde den IK zum Verhängnis. Ohne Anleitung und Hilfe von außen löste sich die soziale Organisationen des Stammes auf, die traditionellen Verhaltensmuster, Umgangsformen, Sitten und Gebräuche verfielen in wenigen Jahren. Als der englische Anthropologe Colin Turnbull 1964 nach Uganda kam, um das Leben der Ik zu studieren, fand er Wesen vor, für die es keine sozialen Verbindlichkeiten und zwischenmenschlichen Beziehungen mehr gab. Ihre Existenz war reduziert auf das Bedürfnis nach Befriedigung des Nahrungstriebs.

Nach dem Erfahrungsbericht Colin Turnbulls , als Buch 1973 veröffentlicht unter dem Titel ‘The Mountain People’, entwickelte Peter Brook mit den Schauspielern seines Pariser Theaterzentrums ein 18-Stunden-Epos, das die Autoren Dennis Cannan und Colin Higgins auf eine Zwei-Stunden-Fassung verdichteten.

“Die Geschichte der Ik”, heißt es im Programmheft zur Londoner Aufführung, “enthält erschreckende Implikationen für jede Gesellschaft, der rapide Veränderungen zugemutet werden und der es nicht gelingt, sich den veränderten Umweltbedingungen anzupassen, eine Gesellschaft, die sich zu sehr auf das Gute im Menschen verläßt”.

“Der Fall ist ein besonderer”, gab Peter Brook zu Protokoll, “aber die Tragödie ist universal”. Was damit gemeint ist, wird nicht genauer bezeichnet, auch nicht – und das ist hier entscheidend – im Stück selbst, das im Londoner Roundhouse tiefes Unbehagen hervorrief, ein Unbehagen, das gerade weil es um keinen Geringeren geht, nicht mit ehrfürchtigen Phrasen verschleiert werden sollte.

Im Gegensatz zur veröffentlichten Meinung der meisten Londoner Kritiker, die sich am Morgen nach der Premiere veranlaßt sahen, den erhofften Erfolg zu bestätigen, wage ich zu behaupten: Wäre dies nicht eine Arbeit von Peter Brook, kein Hahn würde danach krähen. Denn sensationell daran ist höchstens die Tatsache, daß nach jahrelanger Vorbereitung, eingehenden Studien und intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema des Stückes und seiner Präsentation unter der Leitung eines Mannes, den viele zum besten Theaterregisseur seiner Zeit erklärt haben, hier etwas vorgestellt wird, das dem eigenen Anspruch in keinem Sinne genügt und – so frivol es klingen mag – künstlerisch schlichtweg versagt. Was man im Roundhouse sah, wirkte nicht nur nicht spektakulär, erregend originell oder bedeutsam, sondern trotz seines dramatischen Inhalts erschreckend langweilig.

Brook hat versucht, auf alle Theatralik zu verzichten: Heller Zuschauerraum, leere offene Bühne, keine Veränderungen der Szenenbeleuchtung, fast keine Kostüme, keinerlei Maske. Die sechs Hauptdarsteller stammen aus ebenso vielen Nationen; ein schwarzer Afrikaner, ein Asiate, ein Mischling, drei Weiße; gründlich ausgebildete Schauspieler mit jahrelanger praktischer Erfahrung. Sie haben, so heißt es, nicht versucht, die Ik zu verkörpern, sondern gewissermaßen geistig mit ihnen zu leben.

Sie zeigen totale Verwahrlosung, Gier, Mitleidlosigkeit und Sterben und sprechen mit Bewunderung von der Fähigkeit zu überleben. Die von vielen Geselllschaften auf Wildbeuterebene bekannte Aussetzung oder Tötung von Kindern, Greisen und Kranken wird hier als besonderer Ausdruck von Animalisierung, Resultat der veränderten Lebensumstände erklärt. Das gleiche gilt für die Fixierung auf die Nahrungsmittelsuche, die bei Völkern dieses Kulturtyps in ärmeren Gegenden die Regel ist.

Das Schicksal der Ik könnte trotz alledem – und dies scheint der Zweck der Übung gewesen zu sein – zum Menetekel werden für unsere Zeit, Modell der Dehumanisierung, der schleichenden Krankheit zum Tode unserer Zivilisation. Doch Interpretationen solcher Art bleiben der Phantasie des Zuschauers überlassen, dem die sachlichen Ungenauigkeiten, unerklärten Widersprüche und einfältigen Demonstrationsversuche wenig Anhaltspunkte dafür geben, in welcher Richtung eine Lösung des uns allen offenbar betreffenden Problems zu suchen wäre. Wie Charles Marowitz schon vor Jahren im Anschluß an Brooks Vietnam-Stück ‘US’ schrieb: Der Zustand der Welt, in der wir leben, verlangt vom Theater nicht mehr nur, daß es allgemeine Fragen stellt, sondern auch Antworten vorbereiten hilft.

Der Versuch, auf alles Theaterhafte, auch auf jede Form von Regie zu verzichten, die Geschichte der Ik sich quasi selbst zu überlassen, führt zur Reduktion der Sache auf ihren verkürzten Inhalt, der sich so formlos mitteilt, daß die Schauerlichkeit des Vorgangs, den er bezeichnet, kaum noch mit übertragen wird. Was wir von der Bühne herab erfahren, kann zwar auch in rudimentärer Gestalt noch den Anstoß zum Nachdenken geben über die moralischen Grundlagen einer Zivilisation, welche in zunehmendem Maße zur Rebestialisierung des Menschen beiträgt. Doch die gutmeinende Absicht, aus Respekt vor der Sache, die man vermitteln möchte, alle Künstlichkeit des Theaters strikt zu vermeiden, läßt das Produkt kunstlos erscheinen, den Inhalt nichtssagend. Ein Ergebnis, das bei einem in theatralische Effekte sonst so verliebten Regisseur umso mehr verblüfft.

Für Brook selbst mag der Umweg notwendig sein, das ganze wirklich nur Zwischenergebnis einer sehr persönlichen Auseinandersetzung mit den Kriterien der Kunst des Theaters. Ein Zwischenergebnis freilich, an dem die Öffentlichkeit nicht interessiert sein kann.

Das Publikum geht mit der Lektion nach Hause, daß irgendwo Schlimmes geschieht, das es uns alle betrifft, doch daß kein Kraut dagegen gewachsen ist. Eine armselige Botschaft.

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