Sir Peter Hall, Generalintendant des britischen Nationaltheaters, tritt am Ende der Spielzeit von seinem Posten, den er 15 Jahre innehatte, zurück. Halls Abschied bedeutet das Ende einer Ära, nicht das Ende einer großen Karriere, die Mitte der Fünfzigerjahre begann und ihn zu einer der einflußreichsten Gestalten der britischen Theaterszene werden ließ.
Sohn eines Bahnbeamten, der mit einem Stipendium in Cambridge studieren konnte, übernahm Peter Hall mit 24 Jahren die Leitung des Londoner Arts Theatre und machte als ungewöhnliche Regiebegabung früh von sich reden. 1960 wurde er Direktor der neu gegründeten Royal Shakespeare Company. Er setzte durch, daß er neben dem Shakespeare Theatre in Stratford eine zweite Bühne in London bekam (das Aldwych Theatre), wo er vor allem neue Stücke und die Werke der modernen Klassiker aufführen ließ. In den zehn Jahren seiner Intendanz wurde die Royal Shakespeare Company zu einem der erfolgreichsten Schauspielensembles der Welt. Von 1971 an war Hall Co-Direktor des Royal Opera House (Covent Garden), zwei Jahre später übernahm er als Nachfolger von Laurence Olivier die Leitung des Nationaltheaters, mit dem er 1976 in das neue Gebäude am Südufer der Themse einzog. Damit gewann das Ensemble drei neue Theater mit einer Kapazität von 2500 Plätzen. Olivier Theatre, Lyttelton Theatre und Cottesloe Theatre brachten seither jährlich fünfzehn bis achtzehn Neuinszenierungen heraus. Trotz aller Schwierigkeiten (vor allem finanzieller Art; allein die Haltung des Gebäudekomplexes kostete jährlich 9 Millionen Mark), – trotz aller Schwierigkeiten wurde das neue Nationaltheater unter Peter Hall zu einem spektakulären Erfolg, der die Arbeit der Royal Shakespeare Company, vor allem nach dem Ausscheiden von Halls Nachfolger Trevor Nunn, mehr und mehr in den Schatten stellte.
1977 wurde Peter Hall geadelt, 1984 übernahm er auch die künstlerische Leitung des Opernhauses in Glyndebourne. Daneben fand er Zeit für große Gastinszenierungen im Ausland. Hall gilt als totaler ‘workaholic’, ein Mann, der ohne Arbeit nicht sein kann. Nach seinem Abschied vom National Theatre will er ein eigenes, kommerzielles Theater gründen, The Peter Hall Company, das im Winter 1988 im traditionsreichen Haymarket Theatre des Londoner Westends seine Arbeit aufnehmen wird.
Peter Hall hat sich um das britische Theater verdient gemacht: als Intendant mit außergewöhnlichen Führungsqualitäten; als Regisseur (er gilt neben Peter Brook und Trevor Nunn als “einer der drei großen Regisseure des Theaters nach 1945”); und als mutiger Streiter für die Erhaltung der den Künsten gewährten öffentlichen Subventionen, als Verfechter einer aufgeklärten Kulturpolitik, der jede Gelegenheit nutzte, die sich ihm bot, die Regierung darauf hinzuweisen, daß sie dabei sei, die künstlerische Kreativität des Landes zu ersticken. “Im Bereich des subventionierten Theaters hat man das Gefühl (und ich spreche nicht nur für mich), daß wir einfach unerwünscht sind“, erklärte Hall kürzlich in einem Interview. “Am liebsten hätte man wohl, daß wir gar nicht mehr da wären, so daß man auch hier das amerikanische Modell einführen könnte. In den USA gibt es keinerlei Kontinuität, keinerlei Tradition. Die Leiter künstlerischer Institutionen sind unentwegt damit beschäftigt, die nötigen Gelder aufzutreiben, statt ihre Zeit und Energie ihren eigentlichen Aufgaben zu widmen”.
Der Gedanke, sich mit Shakespeares späten Werken, den vermutlich 1610/11 fast gleichzeitig entstandenen märchenhaften Stücken ‘Cymbeline’, ‘Wintermärchen’ und ‘Sturm’, vom Nationaltheater zu verabschieden und sie erstmals als Trilogie an drei aufeinanderfolgenden Tagen auf die Bühne zu bringen, war ein genialer Einfall. Die drei oft als ‘Romanzen’ bezeichneten Schauspiele sind deutlich miteinander verwandt, handeln von phantastischen Begebenheiten, und in jedem von ihnen geht es um den Konflikt und Ausgleich feindlicher Gegensätze –Treue und Betrug, selbstlose Liebe und Haß, tyrannischer Eigensinn und menschliches Mitgefühl, Jugend und Alter, Ruhe und Sturm – und um Lernprozesse, die schließlich Harmonie und Versöhnung stiften.
Jedes der Stücke hat als zentrale Gestalt einen Mann mit unberechenbaren Charakterzügen, von Haß erfüllt oder in Wahnvorstellungen verstrickt, die ihn destruktiv handeln lassen. In ‘Wintermärchen’ wie in ‘Cymbeline’ geht es um ungerechtfertigte Eifersucht, um lange Irrfahrten, verlorene Königskinder und das Wiederauftauchen von Totgeglaubten. In ‘Sturm’ und ‘Wintermärchen’ erleben wir den Konflikt zwischen unschuldig-jugendlicher Lebens- und Liebeslust und einer desillusionierten, von rationalen Erwägungen dominierten älteren Generation. Und ohne den Eskapismus zu fördern, einzuladen zur Flucht in die Idylle, endet jedes der Stücke versöhnlich und ‘happy’.
Weil sie ursprünglich für ein Kammertheater, das intime Black Friars Theatre, geschrieben, im Schein von Kerzenlicht vorgestellt und erst später ins große Globe Theatre übernommen wurden, hat Peter Hall die Stücke zunächst für das Cottesloe, die Studiobühne des Nationaltheaters, eingerichtet. Unverkennbar tragen die Inszenierungen die Handschrift ihres Regisseurs, der die Aufführung der klassischen Werke aus der Partitur der Texte entwickelt und dem es gelingt, die Poesie der Sprache zu bewahren und die Verse so sprechen zu lassen, daß jedes Wort sinnvoll und notwendig erscheint. Hall demonstriert auf verblüffende Weise, daß das eine das andere bedingt und die Verse nur dann, wenn sie richtig gesprochen werden, den Sinn der Texte offenbaren.
Alle drei Stücke spielen vor einer hohen, blau-weiß bemalten Wand auf blankem Holzfußboden, in dessen Mitte eine Scheibe eingelassen ist, die sich für Veränderungen des Szenenorts nach vorn oder hinten kippen, auf- oder umklappen läßt. Über der Szene schwebt ein ebenso großer, mit astrologischen Symbolen geschmückter goldener Kranz, der bei übernatürlichen Erscheinungen sich senkt, teilt oder geschwenkt werden kann. Bis auf die gelegentlich nötigen Sitzmöbel, ein Segeltuch und ein paar Seile für ‘Sturm’, ein paar römische Statuen und einen Leiterwagen für ‘Wintermärchen’, bleibt die Bühne leer.
Das Bemühen, drei personenreiche, schwierige poetische Werke mit nicht mehr als 31 Darstellern gleichzeitig einzustudieren und den Sinn der Texte aus der poetischen Struktur der Verse hervortreten zu lassen, hat dem kleinen Ensemble eine gewaltige Aufgabe gesetzt. Was unter diesen Umständen zustande kam, ist trotz kleiner Schwächen in der Besetzung einiger Rollen, mehr als bewundernswert. Dabei erweist sich die Aufführung des Stückes, das die absurdesten Zufälle, die unglaublichsten Begebenheiten der Mitspielbereitschaft des Publikums zumutet, nämlich ‘Cymbeline’, als die schönste, gedankenreichste, best durchgearbeitete und wirkungsvollste der drei Inszenierungen.
Unter den Darstellern, von denen man viele nie besser gesehen zu haben glaubt, verdienen vor allem Tim Pigott-Smith (als Leontes, Iachimo und Trinculo), Eileen Atkins (als Paulina und Cymbelines Königin), Peter Woodward (als Posthumus, Polixenes und Ferdinand), Tony Haygarth (für seinen erstaunlichen Caliban) und Michael Bryant (für seinen ungewöhnlichen, bösartig-tyrannischen Prospero) besondere Anerkennung.
Kurz nach der Londoner Premiere der Stücke hat sich das Ensemble auf Gastspielreise in die Sowjetunion und nach Japan begeben, von wo es erst im Juli zurückkehren wird. Ab August sollen die drei Inszenierungen ins große Olivier Theatre des Nationaltheaters übernommen werden. Sir Peter Hall wird im September die Leitung des Hauses an Richard Eyre und David Aukin übergeben. Es wird für sie – wie für jeden anderen denkbaren Nachfolger – keine leichte Aufgabe sein.