die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1992
Text # 273
Autor Harold Pinter
Theater
Titel No Man’s Land
Ensemble/Spielort Almeida Theatre/London
Inszenierung/Regie David Leveaux
Hauptdarsteller Harold Pinter/Paul Eddington
Neuinszenierung
Sendeinfo 1992.11.04/SWF Kultur aktuell/RIAS/BR/DS Kultur (versch. Versionen) Nachdruck: Darmstädter Echo

Es gibt manchmal Aufführungen, die man als Sternstunden des Theaters erlebt. Dazu gehört für mich die Premiere des Stückes ‘No Man’s Land’ von Harold Pinter, das in der Inszenierung von Peter Hall mit zwei der größten englischen Schauspieler dieses Jahrhunderts in den Hauptrollen, John Gielgud und Ralph Richardson, 1975 am Londoner Nationaltheater erstmals vorgestellt wurde und seither nicht mehr auf einer Bühne der britischen Hauptstadt zu sehen war.

Die Furcht, vor der exemplarischen Erstinszenierung, die man noch immer so klar in Erinnerung hatte, zu versagen, muß einer der entscheidenden Gründe dafür gewesen sein, daß sich seit siebzehn Jahren kein Londoner Theater an eine Wiederaufführung des Werkes heran getraute. Die neue Inszenierung im Almeida Theatre war daher überfällig. Sie bestätigt den Rang dieses Stückes als eines der großen Dramen unserer Zeit.

Es enthält viele Themen, die man aus anderen Werken des Autors kennt: die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses; die Subjektivität der Erinnerung von Fakten, die von verschiedenen Personen sehr verschieden wiedergegeben werden und gleichermaßen glaubhaft erscheinen; der Konflikt zwischen Rohheit und Sensibilität; der Einbruch in fremdes Terrain; die unklaren Grenzen zwischen Phantasiewelt und Wirklichkeit.

‘No Man’s Land’ ist ein Schauspiel ohne eigentliche Handlung. Hirst ist die Ruine eines früher sehr erfolgreichen, doch inzwischen vom Alkohol zerstörten Schriftstellers. Unter der Obhut und in der Gewalt eines Sekretärs und eines Dieners lebt Hirst dem Ende seiner Tage entgegen. Bei einem seiner nachmittäglichen Spaziergänge hat er einen etwa gleichaltrigen Kollegen namens Spooner getroffen, der dem elegant gekleideten Gentleman nur allzu gern zur Fortführung des Gesprächs in dessen stattliches Haus im feinen Hampstead gefolgt ist. In dem weitgehend monologisch geführten Wortwechsel der beiden Männer fallen Namen, die zu Geschichten gehören, Erinnerungen, die sich überkreuzen, als wären Hirst und Spooner seit Jahren miteinander bekannt, hätten gemeinsame Freunde gehabt und manchmal dieselben Frauen geliebt. Das Gefühl eines Schwebezustandes teilt sich mit, eines seltsamen Niemandslandes zwischen Realität und Phantasiewelt, Vergangenheit und Zukunft, Leben und Tod. Spooner trägt Hirst schließlich ganz unverblümt seine Dienste an.

Doch der wehrt ab, verteidigt den Zugang zu seinem Innenreich, der eisigen Wüste, in die er sich für immer zurückgezogen hat.

Auch für die neue Inszenierung des Stückes unter der Regie von David Leveaux hat man eine Starbesetzung zustande gebracht. Harold Pinter selbst in der Rolle des Hirst steht nach dreiundzwanzig Jahren erstmals wieder als Schauspieler auf der Bühne. Die bullige Gestalt mit der sonoren Stimme strahlt Autorität und steife Würde aus, doch es fehlt ihr etwas von der Größe und Tiefe der versteinerten Persönlichkeit, die Ralph Richardson, unvergeßlich wie sein Partner und Gegenspieler John Gielgud, seinerzeit ahnen ließ.

Die Fernsehserien ‘Yes, Minister’ und ‘Yes, Prime Minister’ haben Paul Eddington zu einem der erfolgreichsten und beliebtesten Darsteller in England gemacht. Viel zu selten hat man ihn in der letzten Zeit auf der Bühne eines Theaters gesehen. Eddington spielt Spooner, Gielguds berühmte Rolle, als hagere Vogelgestalt eines erfolglosen Literaten, mit großen ängstlichen Augen, zaghafter Stimme und scheuen Gesten, ein faszinierend zwielichtiger Charakter, der seinem Gegenüber, den immer wieder im Stupor des Alkohols versinkenden Hirst, hier mehr als ebenbürtig erscheint. Eine virtuose schauspielerische Leistung, brillant im Timing der mitunter irrsinnig komischen, hintergründig poetischen Repliken.

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