die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1975
Text # 93
Autor Edward Bond
Theater
Titel The Fool
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Peter Gill
Hauptdarsteller Tom Courtenay
Uraufführung
Sendeinfo 1975.11.20/SWF Kultur aktuell/DLF 1975.11.21/WDR/ORF Wien Nachdruck: Darmstädter Echo/National-Zeitung Basel

Schonungslose, unbeschönigte Darstellung alltäglicher Greuel, der Sarkasmus des Übersensiblen als Abscheu vor der zerstörerischen Gewalt, radikale Negativität eines verzweifelten Optimismus prägte die frühen Stücke Edward Bonds. Ihr Positives war der Schock der Erkenntnis, den sie auslösen sollten, der Erkenntnis der Wahrheit, die den Glauben erschüttert, daß die Welt gut sei.

Seit Bonds ‘Lear’, der in Gaskills Londoner Inszenierung mit theatralischer Christuspose einen vom Autor anscheinend nicht für sinnlos gehaltenen Heldentod starb, schien gut idealistische Hoffnung durchzuschlagen, eine Hoffnung, die, tief enttäuscht vom Mißerfolg revolutionärer Bewegungen, dem offenbar unaufhaltsamen Rückfall in Barbarei, im tragischen Untergang des Einzelnen noch die Geste der Versöhnung, das Symbol der Erlösung von den Übeln der Welt erkannte.

Auf ‘Lear’ folgte ‘The Sea’, eine Komödie, an deren Happy End es unverhohlen hieß: “Gib die Hoffnung nicht auf, die Wahrheit wartet auf dich, du wirst sie finden”, und etwas früher: “Du mußt daran glauben!”. ‘Bingo’, uraufgeführt 1974, konnte als selbstkritischer Reflex auf derart gutgläubigen Idealismus verstanden werden. Es ging um die Verantwortung des Schriftstellers gegenüber der Gesellschaft, seiner Verpflichtung zur Wahrheit der sozialen Wirklichkeit, der gegenüber Passivität als Opportunismus gilt, der Rückzug in die Idylle der Phantasie als Verlogenheit, Verrat an den Menschen seiner Umwelt. Bonds Shakespeare schien das Leid der Armen mit überwachem Bewußtsein wahrzunehmen, praktische Konsequenzen jedoch, die ihn selbst betroffen hätten, sorgsam zu vermeiden.

Auch in Bonds neuem Stück ‘The Fool’ (Der Narr), soeben uraufgeführt im Londoner Royal Court Theatre, geht es um das Verhältnis zwischen Schriftsteller und Gesellschaft, um Passivität und Engagement, Opportunismus und gesellschaftliche Wahrheit, das Verhältnis zwischen poetischer Phantasie und Wirklichkeit. Im Mittelpunkt steht die Figur des bäuerlichen Poeten John Clare, der am Ende des 18. Jahrhunderts in Northhamptonshire geboren wurde, sich der Gunst eines Lords erfreuen durfte, in London von sich reden machte, bis sein Geist sich verwirrte und er für den Rest seines Lebens in eine Irrenanstalt verbracht wurde.

Der erste Teil des Stückes berichtet von der Unzufriedenheit der ausgebeuteten Bauern und Arbeiter über den wachsenden Wohlstand der Reichen, welche die bisher gemeindeeigenen Wälder ihrem Privatbesitz einverleiben, roden und bewirtschaften lassen, wobei es zu Protestaktionen der Bauern kommt. Als einige von ihnen in die Häuser reicher Leute einbrechen und plündern und der Pfarrer, Sprachrohr der Besitzenden und korrupter Vertröster auf die Freuden des Jenseits, im Wald überfallen, nackt ausgezogen und beraubt wird, kommt es zu Massenverhaftungen, die mit der Hinrichtung von fünf Bauernjungen enden.

Was Clare, der Poet, sieht und erfährt, schlägt sich zunächst zwar auch in seinen Gedichten nieder, doch die Kritik derer, die es sich leisten können, seine Bücher zu kaufen, zwingt ihn zu weit reichenden Zugeständnissen. Im zweiten Teil des Stückes erlebt man den geistigen Verfall des Dichters und seine Einlieferung in die Heilanstalt. Von dort entflieht er, wird wieder eingefangen und bis zu seinem relativ späten Tod festgehalten.

Bonds ambivalentes Verhältnis zur Titelfigur, die er einerseits wegen ihrer Passivität und Anpassungsbereitschaft kritisiert, andererseits als Opfer der Verhältnisse zu bemitleiden scheint, führt im Verlauf des Stückes zu einer merkwürdigen Verschiebung der Akzente: In dem Maße, in welchem Clare, der im ersten Teil nur eine Randfigur bleibt, in den Vordergrund tritt und die Aufmerksamkeit auf sein privates Schicksal lenkt, scheint das Stück an Aussagekraft und Klarheit zu verlieren. Die sozialen Themen – die Privatisierung von Gemeineigentum, die Ausbeutung der Besitzlosen, die Provokation zu gewalttätigen Ausschreitungen, die Ohnmacht des Einzelnen, das Recht auf Widerstand, die Hoffnung darauf, “daß wir eines Tages das Brot der Vernunft essen werden“ (wie es in einem der Gedichte heißt, die dem Programmheft beigefügt sind) – die sozialen Themen bestimmen überwiegend den ersten Teil des Stückes, die psychologischen Motive den zweiten: die Fixierung auf eine Jugendgeliebte, die Clare statt seiner wirklichen Frau geheiratet zu haben glaubt; das Problem der Einsamkeit; Clares geistige Umnachtung und die Verrücktheiten seiner Umwelt.

Peter Gills kühle, schwer und langsam daherschreitende Inszenierung entspricht der spröden Mentalität der ländlichen Charaktere, deren zeitweise kaum verständlicher Dialekt selbst einigen Londoner Kritikern zum Problem wurde. Im Szenischen (Bühnenbild: William Dudley) wird jeder Aufwand vermieden, die Bühne wirkt wohltuend offen und weit; ein paar Versatzstücke vor dunklem Bühnenhorizont genügen: eine Bank vor dem mächtigen Portal des Herrenhauses; einige Baumstämme bedeuten Wald, ein Geländer mit Bänken Park, Tisch und Stuhl vor einer Mauer Garten, drei Wände mit Tür und Fenster und ein paar Sitzmöbel schaffen einen Innenraum.

Tom Courtenay in der Rolle des unglücklichen Poeten zeigt eine Sprödigkeit, der man das Leiden des Mannes an den Verhältnissen ebenso wenig glauben mag wie sein poetisches Ingenium, den Zwang zum Schreiben, Erbärmlichkeit und Größe des Dichters. John Normingtons Pastor, der in einer atemberaubenden Szene im Wald seiner aufgesetzten Würde beraubt wird und erst in der Armseligkeit des Opfers als Mensch erscheint, Bill Fraser als Admiral Lord Radstock und Bridget Turner als Clares verdrossene Ehefrau waren die herausragenden Figuren des Abends.

Die Londoner Kritiker begegneten Bonds neuem Stück mit deutlichem Unbehagen. Sie schienen Bonds Rückkehr zur ernsthafteren Behandlung sozialer und politischer Themen im allgemeinen zu bedauern und taten sich – wie die meisten der übrigen Zuschauer – mit der Entzifferung der Botschaft einigermaßen schwer.

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