die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1997
Text # 287
Autor Harley Granville Barker
Theater
Titel Waste
Ensemble/Spielort The Peter Hall Company/Old Vic Theatre/London
Inszenierung/Regie Peter Hall
Hauptdarsteller Michael Pennington
Neuinszenierung
Sendeinfo 1997.03.15/DR Berlin 1997.03.17/SWF Kultur aktuell/WDR Mosaik/Nachdruck: Darmstädter Echo

Die Rückkehr von Peter Hall ins Old Vic Theatre wird in diesen Tagen und Wochen als ein Ereignis gefeiert, das die Londoner Theaterszene verändern könnte. Das von Sir Peter Hall geführte Schauspielensemble, The Peter Hall Company, ist der erste und meines Wissens einzige Repertoiretheaterbetrieb, der ohne staatliche oder städtische Zuschüsse funktionieren und in einer auf vierzig Wochen ausgedehnten Spielzeit insgesamt zwölf Inszenierungen – sechs sogenannte klassische Werke und sechs neue Stücke – an sieben Wochentagen mit zehn Vorstellungen pro Woche im Repertoire führen soll. Bei publikumsfreundlich gemäßigten Eintrittspreisen, die sich im Abonnement weiter reduzieren, ein wahrlich wagemutiges Unterfangen.

Fünf der für die Spielzeit 1997 vorgesehenen Stücke des klassischen Programms (das auch die modernen Klassiker des zwanzigsten Jahrhunderts einschließt) wird Peter Hall selbst inszenieren. Für das Programm der sechs Ur- und Erstaufführungen wird Dominic Dromgoole verantwortlich sein, der ehemalige Direktor des Londoner Bush Theatre, das ausschließlich neue Stücke spielt und allein in den letzten sechs Jahren nicht weniger als 27 Theaterpreise gewann.

Peter Hall, Gründer und erster Direktor der Royal Shakespeare Company, ab 1973 Nachfolger von Laurence Olivier als Intendant des Nationaltheaters, das er fünfzehn Jahre leitete, einer der besten und erfolgreichsten Regisseure des Landes, war und ist die herausragende Figur des britischen Theaters der letzten drei bis vier Jahrzehnte. Als Hall 1968 die Royal Shakespeare Company verließ, trat sein Freund und Kollege Trevor Nunn seine Nachfolge an. Einem glücklichen Zufall ist es zu verdanken, daß Hall und Nunn, die seit Jahren nur noch als freie Regisseure tätig waren, sich nun fast gleichzeitig entschlossen haben, wieder die Leitung eines Repertoiretheaters zu übernehmen: Die Peter Hall Company ist für die nächsten fünf Jahre ins berühmte Old Vic Theatre eingezogen – und Trevor Nunn wurde zum neuen Intendanten des Royal National Theatre ernannt und wird im Oktober dieses Jahres Nachfolger von Richard Eyre.

Kein Zufall ist darum die Wahl des ersten Stückes zur Eröffnung der neuen Spielzeit der Peter Hall Company im Old Vic. Dessen Autor Harley Granville Barker gilt als einer der geistigen Väter des Nationaltheaters und war an den frühen Plänen zur Gründung des ‘Exemplarischen Theaters der Nation’ maßgeblich beteiligt, die dann lange nach seinem Tod, erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, Wirklichkeit werden sollten.

Granville Barkers Schauspiel mit dem Titel ‘Waste’ (Verschwendung) entstand 1907 und war für eine Aufführung im Londoner Court Theatre vorgesehen, im Rahmen einer beachtlichen Reihe von 32 Inszenierungen ausgewählter Werke, die eine Vorstellung von den Möglichkeiten eines großen nationalen Repertoiretheaters geben sollten. Granville Barker verstand sein Stück als Tragödie der Verschwendung menschlichen Potentials und als satirische Studie über Politik und Moral. Wegen seines brisanten Inhalts – es geht um den tragischen Ausgang eines sexuellen Skandals, um Ehebruch und Abtreibung, vor allem aber um den Zynismus prominenter Politiker aller Parteien – wurde das Stück sofort von der staatlichen Zensur verboten.

1926 schrieb Granville Barker eine radikal veränderte zweite Fassung, die auch auf die neue Rolle der Labour Party in der britischen Politik und ihre Abhängigkeit von den Gewerkschaften Bezug nahm, sowie auf den bis heute schwärenden Irlandkonflikt, und die aus diesem und anderen Gründen erstaunlicherweise immer noch ganz aktuell erscheint. Für Peter Hall ist es “das ideale Stück in einem Wahljahr“, das zu den von politischen Skandalen erschütterten Verhältnissen unserer moralisch verworrenen Gegenwart paßt.

Michael Pennington in der zentralen Rolle des genialisch begabten, von einer politischen Idee besessenen, skrupellosen Abgeordneten Henry Trebell, der sich und andere zugrunde richtet, erinnert in seinem ganzen Gebaren, seinem Flair, seinem kalten Intellekt und seiner erschreckenden Arroganz an den von Skandalen anderer Art gebeutelten, zur Zeit noch amtierenden britischen Landwirtschaftsminister. Peter Halls präzise, vor allem im zweiten Teil, wenn das Stück erbarmungslos seinem bösen Ende zutreibt, sehr spannende Inszenierung ist von geradezu peinlicher Authentizität.

Ein theatralischer Auftakt, der für die kommenden Monate und Jahre optimistisch stimmt.

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