die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1975
Text # 84
Autor John McGrath/Steve Gooch & Frank McDermott
Theater
Titel Lay Off/Strike
Ensemble/Spielort 7:84/Roundhouse/London
Inszenierung/Regie John McGrath
Uraufführung
Sendeinfo 1975.07.22/SWF Kultur aktuell (I) 1975.07.24/SWF Kultur aktuell (II) Nachdruck: Darmstädter Echo/National-Zeitung Basel

Politisches Theater ist in Verruf geraten in dem Maße, wie es (mit Brecht gesprochen) aus dem Reich des Wohlgefälligen, in dem Theater zu Hause ist, emigrierte und die Aufklärung über gesellschaftliche Sachverhalte so phantasielos, humorlos und kunstlos betrieb, daß dem Publikum der Spaß an solcher Übung recht gründlich verdorben wurde. Zwei Londoner Premieren haben soeben wieder einmal gezeigt, was politisches Theater zu leisten imstande ist und warum normalerweise keiner etwas davon wissen möchte.

Die Gruppe 7:84, die seit 1971 durch britische Lande zieht, muß heute als eine der besten englischen ‘Fringe’-Bühnen gelten, der kleinen Theater am Rande, die im Schatten der Großbetriebe, artistisch im Vorfeld der theatralischen Entwicklung arbeiten und insgesamt im englischen Theaterleben eine überaus wichtige Rolle spielen. Die Verhältniszahl 7:84 steht für einen Tatbestand, gegen welchen die Gruppe mit entwaffnenden Argumenten und überragendem professionellen Können streitet: “7% der Bevölkerung besitzen 84 % der Güter des Landes”. Eine klare Visitenkarte, die keinen Zweifel daran läßt, daß es hier um politisches Theater geht.

Die Londoner Gastspielserie der Gruppe 7:84 mit ihrer neuen Show ‘Lay Off’ (Entlassung) brachte einen der vergnüglichsten, anregendsten und eindrucksvollsten Theaterabende der laufenden Spielzeit. ‘Lay Off’ von John McGrath (Autor der Dialoge und Lieder sowie Regisseur der Show) Ist eine politische Revue, eine Folge kabarettistischer Szenen und Couplets, die in hinreißendem Tempo serviert werden und mit ihrem Humor, ihrem Übermut, ihrer Überzeugungskraft und ihrem klaren, unsentimentalen Optimismus direkt ansteckend wirken.

‘Lay Off’ will über die Arbeit der multinationalen Konzerne informieren, die im Verlauf der letzten zwanzig Jahre zu gigantischen Machtinstrumenten ausgebaut wurden und, wie es heißt, heute “größer sind, skrupelloser, erbarmungsloser und erfolgreicher als jeder andere Betrieb in der Geschichte des freien Unternehmertums. Sie bedienen sich aller wissenschaftlichen Fortschritte, der neuesten Produktionsmethoden und der jüngsten Kontrolltechniken von Betriebsberatung und Gewerkschaften zur Beherrschung der Wirtschaftsverhältnisse der ‘Freien Welt’. Und solange wir" (so heißt es weiter im Text) “zur sogenannten ‘Freien Welt’ gehören, werden wir von den multinationalen Konzernen beherrscht werden“.

Die These klingt zu einfach, als daß sie ohne ausführliche Hinweise auf die zunächst verwirrend komplex erscheinenden wirtschaftlichen Zusammenhänge anhand überzeugender Beispiele hingenommen werden könnte. Doch das Kunststück gelingt: mit Witz, Satire und Ironie wird die einfache Wahrheit, die den komplizierten Transaktionen auf internationaler Ebene zugrunde liegt, herauspräpariert, welche die verwirrenden Zusammenhänge in eine durchschaubare Ordnung bringt.

Namen, Fakten und Daten werden genannt, Fallstudien vorgeführt, Modelle typischen Konsumverhaltens; Verhandlungstaktiken der Unternehmer; Abwiegelung der Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch Betriebsberater und Gewerkschaftsfunktionäre, die nur zur effektiveren Ausbeutung beiträgt; Monopolisierung ganzer Industriezweige; Konzentration von Macht, die auf die Regierungen der Länder einwirken kann; internationale Geldverschiebungen; die ganze “wütende Logik des Privatunternehmertums“ (wie es heißt) , dargestellt an konkreten Beispielen, welche die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre spiegeln.

Monopolisierung führt zur sogenannten Rationalisierung. Für die Arbeitnehmer bedeutet das Kündigung, Entlassung. Die Entstehung der multinationalen Konzerne hat die Arbeitslosigkeit von Millionen gebracht. Die Betroffenen scheinen machtlos. Streiks, früher wirksamstes Mittel im Arbeitskampf, werden sinnlos, weil die Produktion jederzeit in andere Länder verlegt werden kann. Bis endlich – und hier zeigt sich die große Wende, auf die das Stück zweieinhalb kurzweilige Stunden zusteuert – bis die Arbeitnehmer begreifen, daß die Internationalisierung der Großkonzerne zur Internationalisierung der Arbeitskämpfe führen muß. Erst durch die wirksame Solidarisierung mit ihren ausländischen Kollegen können sie, wie am konkreten Fall gezeigt wird, ihre Ansprüche erfolgreich durchsetzen.

Der Jubel des Publikums nach der Vorstellung, die durch mehrere Zugaben verlängert werden mußte, schien keine Grenzen zu kennen.

‘Strike 1926’ von Steve Gooch und Frank McDermott, vorgestellt von der Gruppe Popular Theatre im Londoner Roundhouse, behandelt den Generalstreik, der im Mai 1926 die britische Wirtschaft lahmlegte, bis er nach zehn Tagen vom Dachverband der Gewerkschaften TUC abgeblasen wurde, ohne seine Ziele erreicht zu haben. Die Bergleute, die den Streik um die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze und die Weiterzahlung der bisherigen Löhne begonnen hatten, fühlten sich von den Genossen im Stich gelassen. Sie setzten den Streik in den Bergwerken noch sieben Monate lang fort, mußten sich dann aber mit großen Verlusten geschlagen geben, eine Niederlage, welche die Linken im Lande seit je auf mangelnde Solidarität unter den Arbeitern und übergroße Kompromißwilligkeit der Gewerkschaften zurückgeführt haben, die, als es darauf angekommen sei, ihre Position zu behaupten, aus Furcht vor der Möglichkeit, daß sich der Kampf um fairere Arbeitsverhältnisse in einen Kampf um ein gerechteres Gesellschaftssystem ausweiten könne, sich im entscheidenden Augenblick vor ihrer Verantwortung gedrückt hätten und damit den Arbeitern in den Rücken gefallen seien.

Das Stück versucht, die für die Spaltung der Arbeiterschaft bezeichnenden Positionen an der verschiedenen Haltung zweier Brüder darzustellen, Söhne eines Bergmannes, von denen der eine als Funktionär der Eisenbahnergewerkschaft sich eine Verbesserung der Verhältnisse nur durch Verhandlungen und parlamentarische Maßnahmen vorstellen kann, während sein Bruder, ein hitzköpfiger Idealist, davon überzeugt ist, daß eine fundamentale Änderung der Verhältnisse von der Basis ausgehen müssen, also nur von den Arbeitern selbst, mit klarer sozialistischer Perspektive durchgesetzt werden könne.

‘Strike 1926’ hatte das Pech, wenige Tage nach dem Auftritt der Gruppe 7:84 mit ihrer grandiosen politischen Revue ‘Lay Off’ zu erscheinen, die, mit sehr ähnlichen Mitteln arbeitend, unendlich viel mehr erreichte. Hier wie dort der Verzicht auf eine durchgehende dramatische Handlung, stattdessen kurze Dialogszenen, die eine Menge Information transportieren über das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der spätkapitalistischen Gesellschaft, dargestellt an historischen Ereignissen und Entwicklungsphasen. Hier wie dort pop-musikalische Brücken, politische Songs, deren Texte die szenischen Auseinandersetzungen resümieren; der fliegende Rollenwechsel; die Tendenz zu Parodie und Persiflage; und das redliche Engagement für die Idee einer gerechteren Verteilung der Arbeitserträge und der damit verbundenen wirtschaftlichen, politischen Macht.

Im Unterschied aber zur hinreißend gut gelungenen Inszenierung der Gruppe 7:84 erstickt die musikalische Show ‘Strike 1926’ in Fakten und Daten, Namen, Zahlen und den technischen Details um den Generalstreik, den es historisierend zu erinnern versucht in der Hoffnung, daß dem Publikum dabei Parallelen aufgehen zur Situation der Gegenwart. Popular Theatre will am konkreten, historischen Beispiel nach alter, schlechter Weise belehren, hat aber nicht den Witz, die Überzeugungskraft und das künstlerische Vermögen, die Botschaft auch an den Mann zu bringen.

Dilettantismus ist das gut Gemeinte. Dilettantismus treibt die Leute aus dem Theater – und schadet in jedem Fall der Sache, die man vertritt.

 

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