die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1973
Text # 57
Autor Cecil P. Taylor
Theater
Titel The Grand Adultery Convention
Ensemble/Spielort Almost Free Theatre/London
Inszenierung/Regie Roland Rees
Uraufführung
Sendeinfo 1973.05.26/SDR 1973.06.01/ORF Wien/BBC German Service

Ein Teil der englischen Kleinbühnen macht heute engagiert politisches Theater. Dabei hat sich eine besondere, wie mir scheint, typisch britische Variante herausgebildet, die vom geschmähten Agitprop genügend weit entfernt ist: die politische Satire, die entweder Ereignisse und Personen der Tagespolitik kabarettistisch auf die Hörner nimmt oder mehr indirekt, in der konventionelleren Form eines Dialogsstückes, sich mit sozialpolitischen Themen auseinandersetzt.

Zwei Uraufführungen der letzten Woche zeigen den charakteristischen Unterschied: Das Theatre Upstairs des Royal Court servierte die kabarettistisch-musikalische Revue ‘Gib deinem Vorgesetzten Zeit, dich zu lieben’ von Barry Reckord; das Almost Free Theatre brachte ein Stück mit dem irreführenden Titel ‘Die große Ehebruchskonvention’ von Cecil P. Taylor, dem zurzeit meistgespielten schottischen Bühnen-, Funk- und Fernsehautor. Taylors Stück ist eine politische Satire über politische Satire, genauer gesagt über die Schwierigkeiten politisch engagierter Theatertruppen, das Publikum zu erreichen, das sie ansprechen und aufklären wollen, die Leute der Arbeiterklasse, den sprichwörtlichen Mann von der Straße, der normalerweise nicht ins Theater geht, weil er zu wissen scheint, daß seine Sache dort nicht vertreten wird.

Die sogenannte ’Neue sozialistische Theatergruppe’, die Taylor uns vorstellt, versteht sich als ‘Lebensschule des Proletariats’. Unter der Leitung eines soeben von der Universität kommenden sozio-politologisch geschulten Theaterwissenschaftlers probt die Gruppe für eine Show, die sich an die Arbeiter wenden soll, für deren vitale Interessen man sich engagieren zu müssen glaubt. Als ein echter Arbeiter auftaucht und sich in die klug-hintersinnig ausgedachten Spielvorgänge einmischt, offenbart sich die Diskrepanz zwischen den weltfremden Vorstellungen der aus mittelständischem Milieu stammenden Akteure und ihrem eigentlich nur an praktisch-alltäglichen Fragen wie Sex, Familie und Geld interessierten Zuschauer.

Die im herrlichsten Politjargon zungenflink vorgetragenen Ideen, Argumente und Interpretationen stoßen ins Leere, das intellektuelle Geschwafel fällt auf taube Ohren. Was sie da täten, meint ihr ‘Mann von der Straße’, sei zwar recht schön und gut; er verstehe, was sie damit sagen wollten, aber wen interessiere das schon? Ihre kritischen Selbstanalysen, ihr Vietnamkrieg, ihre pseudoreligiösen Symbofiguren in Ehren, aber es gebe doch viel erregendere Themen. Zum Beispiel Sport, das interessiere die Leute noch. Warum also kein Stück über Fußball?

Den anderen dünkt der Einfall genial: die Fußballszene vor gewaltiger imaginärer Kulisse – der Begriff vom Totaltheater drängt sich auf. Die Vorstellungen über Inhalt und Form des geplanten Stückes gehen freilich so weit auseinander, daß der Arbeiter schließlich die Lust daran verliert. Man belehrt ihn, dies sei doch nun sein Theater; er müsse nur verstehen, daß sich die Methoden des Kampfes um den Sozialismus geändert hätten; es gehe jetzt nicht mehr um Arbeit und Brot, sondern um seelische Werte.

Das eklatante Desinteresse der Schauspieler an den Fragen, die dem Arbeiter wichtig erscheinen, ihre Neigung zu Abstraktion und metaphorischer Verschlüsselung, die intellektuelle Vernebelung und ihr Politologenkauderwelsch treibt den ‘Mann von der Straße’ schließlich aus dem Haus. Die Kluft scheint unüberbrückbar.

Die grotesken Mißverständnisse zwischen den Theatermachern und ihrem Mann aus dem Volke wirkten in der Inszenierung von Roland Rees nicht nur überaus komisch, sondern auch erschreckend wirklichkeitsnah.

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