die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1987
Text # 227
Autor Heiner Müller
Theater
Titel Hamletmaschine
Ensemble/Spielort Almeida Theatre/London
Inszenierung/Regie Robert Wilson
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1987.11.06/SWF Kultur aktuell/BR 1987.11.09/DLF/Nachdruck: Darmstädter Echo

Britannien bleibt die Insel, die nicht ein schmaler Kanal, sondern ein Ozean vom europäischen Kontinent zu trennen scheint. Wenn es Jahrhunderte gedauert hat, bis die Dramen der deutschen Klassiker Goethe, Schiller und Kleist (von Geringeren ganz zu schweigen) auf eine britische Bühne gelangten, darf man sich nicht wundern, daß Heiner Müller, einer der bedeutendsten Bühnendichter deutscher Sprache in unserer Zeit, im Lande Shakespeares heute noch ebenso unbekannt ist wie der Amerikaner Robert Wilson, einer der kreativsten Regisseure der Gegenwart.

Von den ersten Aufführungen der Heiner-Müller-Stücke ‘Der Auftrag’ (1982 im winzigen Kellertheater Soho Poly) und ‘Quartett’ (1983 in einem Studio des Südlondoner Vororts Croydon) hatten die meisten Zeitungen keine Notiz genommen. Auch von der Arbeit Robert Wilsons, der bei den hoch dotierten Bühnen der Bundesrepublik nahezu ideale Arbeitsbedingungen fand und als Erfinder eines neuen bildhaften Theaters auf dem europäischen Kontinent seit Jahren umjubelt wird, bekam man in England (mit einer Ausnahme, einem kurzen, kaum beachteten Gastspiel Ende der Siebzigerjahre) nichts zu sehen.

Die britische Premiere des Stückes ‘Hamletmaschine’ hat in erfreulichem Maße publizistischen Wirbel gemacht, der freilich, wie nach den Umständen zu erwarten war, weniger dem Autor des Textes als dem Regisseur Robert Wilson gilt, der seine New Yorker Inszenierung in diesen Tagen im Londoner Almeida-Theater vorstellt. Und wie Heiner Müllers Text sich auf Shakespeare (und andere Quellen) stützt, so stützt sich Wilson auf den Text Heiner Müllers, benutzt ihn als Vorlage für ein Drittes: die eigene Komposition eines szenischen Werkes nach Motiven von Müller, Shakespeare und anderen.

Das Visuelle – Geste, Bewegung, Szenerie und Licht – wird dem gesprochenen Wort nicht nur gleichberechtigt zur Seite gestellt, sondern scheint es zu dominieren. Der Regisseur wird zum eigentlichen Autor, dessen Willkür so gut wie keine Grenzen gesetzt sind; der einzelne Motive seiner Vorlage aufnimmt, andere fallen läßt; der den Text im Wortlaut nicht zu verändern braucht, um etwas Neues, durchaus Eigenes daraus zu machen.

Die in Müllers Textpartitur enthaltenen politischen Motive scheinen sich in Wilsons Inszenierung mehr oder weniger verflüchtigt zu haben. Dafür ist das Ophelia-Motiv, die Tragödie der gequälten und mißbrauchten, in Verzweiflung und Tod getriebenen Frau, zum zentralen Thema des Stückes geworden.

Der Willkür des Autors-Regisseurs steht die totale Unfreiheit der Darsteller gegenüber, die den während der Proben festgelegten szenischen Ablauf mit der Präzision eines perfekt funktionierenden Uhrwerks zu exekutieren haben. Sie wirken wie leblose Versatzstücke in einem vollkommen durchorganisierten, vollkommen artifiziellen szenischen Gebilde, wie bloße Funktionen einer grandiosen Theatermaschine: Maschinentheater, faszinierend, erschreckend.

Über den Text Heiner Müllers schreibt der Kritiker der ‘Financial Times’: “Es ist ein Werk von karger Schönheit und tückischem Reiz ... Ein Gedicht für das moderne Deutschland, das sich des ‘Hamlet’ und anderer Quellen als Werkzeug bedient in einem chamäleonartigen Artefakt. Genau dies ist unser Problem bei jeder neuen Begegnung mit ‘Hamlet’”. – “Heiner Müller läßt den Prinzen von Dänemark als kompromittierenden Zeugen der Katastrophen und verratenenn Revolutionen der europäischen Geschichte antreten“, heißt es in der ‘Times’.

Der Kritiker der Zeitung ‘The Independent’ gibt ungehemmt seinem Ärger Ausdruck, daß er mit Text und Inszenierung des Werkes nichts anzufangen weiß, spricht von einer “grob zusammen gehauenen Montage verstümmelter Schmähworte, die der Zeile ‘Dänemark ist ein Gefängnis’ universale Bedeutung geben soll“, von “klischeehaft zeitgenössischem Feministen-Agitprop“ und von einem “Rückfall in die Frühphase des Surrealismus“. Dies sei “Nachhut, nicht Avantgarde“.

Michael Billington schreibt im ‘Guardian’: “Müller will offenbar vermitteln, daß Deutschland an seinem eigenen Zwiespalt leidet; daß wir in einer harten, mechanisierten, materialistischen Welt leben, in welcher private Ängste fast schon ein Luxus sind: Hamlets Spiel-Welt wird laufend dem vorfabrizierten Geplapper des Fernsehens und der entwürdigenden Konsumwelt entgegengestellt. In Wilsons Inszenierung ist davon nichts zu erkennen“. “Sie ist sehr schön anzuschauen und nutzt die räumlichen Möglichkeiten des Theaters ... Aber ich habe den Eindruck, daß hier ein kalter, puritanischer Ästhetizismus am Werke ist, der wenig zu tun hat mit der rohen, schartigen Energie des Textes von Heiner Müller”. “Wilson geht es offenbar mehr um Form als um den Ausdruck von Inhalt“.

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