die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1992
Text # 307
Autor Howard Brenton
Theater
Titel Berlin Bertie
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Danny Boyle
Hauptdarsteller Diana Rigg
Uraufführung
Sendeinfo 1992.04.15/WDR/RIAS/SDR/BR/DS Kultur

Howard Brenton ist einer der prominentesten und produktivsten aus der Gruppe der jungen englischen Autoren, die Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre mit ihren ersten Theaterstücken von sich reden machten. Was sie auf die Bühne stellten, hatte direkt zu tun mit unserer Wirklichkeit, mit konkreten Verhältnissen, mit korrupten Politikern, Richtern und Polizisten, mit dem krassen Unterschied von Arm und Reich, mit dem Elend der Obdachlosen, mit Neofaschismus und der Gefahr der Aushöhlung oder Abschaffung der Demokratie.

Das englische Theater hat auf politische Vorgänge stets bemerkenswert schnell und direkt reagiert und politische Konstellationen aus historischen Zusammenhängen zu erklären versucht. Brentons 1974 geschriebenes Schauspiel ‘The Churchill Play’ zum Beispiel war eine unmißverständliche Warnung vor der Gefahr des Totalitarismus, dem Großbritannien vierzehn Jahre später, als das Stück in einer Neufassung von der Royal Shakespeare Company vorgestellt wurde, schon um einiges näher gekommen zu sein schien. In dem 1989 uraufgeführten Schauspiel ‘Hess ist tot’ ging es Howard Brenton um das Thema historischer Wahrheit. Der Tod des Rudolf Hess wurde zum Exempel der These, daß die offizielle Version der Geschichte oft mit der Wahrheit nichts mehr zu tun hat.

Brenton versteht sein neues Stück mit dem Titel ‘Berlin Bertie’ als eine Art Weiterführung der Fragen, die sich bei der Spekulation über den zweifelhaften Tod des Rudolf Hess aufgedrängt hatten. Es ist die psychologische Studie zweier Schwestern, die sich auf dem Höhepunkt einer katastrophalen Krise nach vierzehn Jahren in London wiedersehen.

Rosa (gespielt von Diana Rigg) ist Psychotherapeutin. Sie hat in den siebziger Jahren einen Berliner Pfarrer geheiratet und ist mit ihm freiwillig in den Osten der Stadt übersiedelt, um (wie die Schwester es nennt) für Jesus gegen die üblen Kommunisten zu kämpfen. Als die Mauer fiel, ist nicht nur ihr religiöser Glaube, sondern auch ihre Ehe in die Brüche gegangen.

Rosa sucht Zuflucht bei ihrer jüngeren Schwester Alice, einer Sozialarbeiterin – und findet sie in einem Südlondoner Mietshaus in verwahrlosten Verhältnissen, drogenabhängig und wegen eines beruflichen Fehlers, der einem Baby das Leben kostete, bis zur Klärung des Falles durch eine Untersuchungskommission nun schon seit zwei Jahren von ihrem Dienst suspendiert. Um ihr Versagen, ihre persönliche Schuld zu büßen, hat sich Alice mit dem Leben in Dreck und Unrat bestraft, in dem die Schwester sie antrifft.

Alice hat ihren Glauben an sich selbst verloren. Rosas Glaube an Gott ist zerbrochen, als ihr ein Stasi-Beamter ihre Akte mit einer Liste von Spitzeln überreichte und sie darunter auch den Namen des eigenen Mannes fand. In einer dramatischen Rückblende erleben wir, wie der Mann von der Stasi am Tag der Feiern zum 40-jährigen Jubiläum der DDR in Rosas Wohnung auftaucht, ihr ein “Bekenntnis seiner Sünden” ablegt und sie veranlassen will, ihn als Patienten anzunehmen, der nach seelischer Heilung verlangt. Als Vertrauensbeweis hat er Rosas Stasi-Akte mitgebracht.

Es ist erstaunlich, wie tief der Autor uns in die verwundeten Seelen der drei Charaktere blicken läßt und wie glaubhaft auch die beiden anderen Figuren des Stückes erscheinen, die die verkommene Wohnung vorübergehend mit Alice teilen: Ihr gutmütig-harmloser Freund Sandy, der seine Worte zwanghaft-bewußtlos immer und immer wieder mit demselben kraftlos gewordenen Kraftwort zu Sätzen verleimt; und die obdachlose, geschlechtskranke Joanne, die Alice am Vortag unter einer Brücke fand.

Rosa erschrickt, als sie erfährt, daß ihr ein Mann, der sich Bertolt Brecht oder Bertie nennt, aus Ostberlin nach London gefolgt ist. Denn auch der Mann von der Stasi hatte denselben Code-Namen gebraucht. Die Sache ist harmlos, wie sich herausstellt. Denn diesmal ist der Verfolger gekommen, um Rosa einen Heiratsantrag zu machen.

Brenton gelingt das Kunststück, den zynischen Menschenjäger der Stasi, der nach der Wende seine technischen Kenntnisse im Handel mit illegalen Computerspielen gewinnreich zu nutzen versteht, gleichwohl als Menschen zu zeigen, der auch irgendwie Opfer der Verhältnisse geworden ist, ein für sein Leben Gezeichneter, der sich wie alle anderen nach einer Idylle sehnt, die ein wenig Glück verheißt. Und er legt ihm prophetische Worte in den Mund:

“Kann es in der ‘neuen Ära’, die da um uns herum geboren wird, überhaupt noch Gespräche ’in gutem Glauben’ geben? Alle Beziehungen werden befleckt sein“. – “Es wird keinen sauberen Schnitt geben, der uns von der Vergangenheit trennt. Das neue ‘demokratische’ Deutschland ist vergiftet, noch bevor es begonnen hat”. – “Im wiedervereinigten Deutschland werden die ‘Reinen im Herzen’ keinerlei Einfluß haben. Aber vielleicht gibt es andere, die ihr in euren Krypten und Speichern vor uns verborgen habt, Fanatiker, die ebenso schlimm sind wie wir, die ihr loswerden wolltet. Ein Hitler-Verehrer auf eurem Dachboden, Rosa?”.

Rosa hat ihren Glauben an Gott und den eigenen Ehemann verloren, Alice den an die Aufgabe, für andere dazusein, und Bertie an den Staat, der ihm Macht über andere gab. Mit einem diabolischen Geständnis nimmt der zum Kapitalisten mutierte Staatssicherheitsmann seinen Abschied: “Wußtet ihr nicht, daß wir einen ganzen Sommer lang mit der Fälschung von Stasi-Papieren beschäftigt waren, echte und erfundene Denunziationen ununterscheidbar vermischt haben?”.

Immer wieder klingt durch das Stück wie ein Leitmotiv die Sehnsucht, der seelischen Not buchstäblich entfliegen zu können. Wenn die Männer gegangen sind, schlägt Joanne, die davon träumt, sich einer Pantomimentruppe anzuschließen, den beiden Schwestern vor, sich zusammenzutun und mit einer Flugnummer durch ferne Länder zu ziehen. Sie stellen sich hinter einander auf, breiten bei eins, zwei, drei die Arme aus – und bilden sich ein, sie flögen davon.

Die fünf Darsteller der Uraufführung des Stückes unter der Regie von Danny Boyle sorgen für einen der besten Theaterabende, die das Royal Court Theatre seit langer Zeit gesehen hat. Manchmal läßt sich zum Lob einer Inszenierung nichts schöneres sagen, als daß sie durch Konzentration auf die Charaktere und den bewußten Verzicht auf alle theatralischen Tricks sich gleichsam unsichtbar gemacht habe, damit das Stück für sich selber sprechen kann.

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