In einem der beiden Prologe, die Howard Barker seinem jüngsten Stück ‘The Last Supper’ (Das letzte Abendmahl) vorangestellt hat, heißt es: “Ich lade euch ein, an den Nagel zu hängen den erstickenden Mantel der Kommunikation. Und ihr mit dem Schreibzeug in der Hand, laßt euch gesagt sein, das Stück enthält keine Information!”
“Das Theater”, schrieb Barker vor ein paar Jahren, “muß anfangen, sein Publikum ernst zu nehmen. Es muß aufhören, Geschichten zu erzählen, die es versteht”. Nimmt es da wunder, daß der begabteste, kreativste und radikalste der englischen Bühnendichter auch der verkannteste ist? Howard Barkers Sprache ist die Sprache der Poesie, die Imagination Spielort seiner Stücke.
Barker erfindet phantastische Geschichten und sonderbare Charaktere in Situationen, die trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit als Reflex auf reale Verhältnisse zu verstehen sind. Was uns in seinen Stücken absurd erscheint, ist der metaphorische Ausdruck von realen Ängsten vor dem Hintergrund eines allgemeinen moralischen Verfalls. Das Monströse gibt sich harmlos alltäglich. Der Boden, auf dem wir gehen, schwankt.
Barkers frühe Stücke verrieten vor allem sein außergewöhnliches Talent für politische Satire. ‘Alpha Alpha’ führt uns vor, wie im trauten kleinbürgerlichen Heim einer Familie des Londoner Eastends zwei Ungeheuer aufwachsen. Die jedermann bekannten historischen Vorbilder der Ganovengeschichte waren Produkte eines Klassensystems, dessen respektable Vertreter der sogenannten Oberschicht noch aus der Kriminalität der anderen Kapital schlagen konnten.
Das Stück ‘Claw’ (Klaue) erzählte die Geschichte eines Jungen aus einem Londoner Armenviertel, der als Zuhälter Karriere macht und schließlich selbst dem Herrn Innenminister der konservativen Regierung seine weiblichen Gespielinnen zuführt.
‘Stripwell’ handelte von einem 60-jährigen Richter, der plötzlich begreift, daß sein bisheriges Leben falsch und verlogen war. Der Versuch, dem Milieu zu entfliehen, in welchem faule Kompromisse, Lüge, Täuschung und Heuchelei zur Norm gehören, kommt zu spät.
‘That Good Between Us’ war weniger gesellschaftskritische Analyse als politischer Stimmungsbericht. Es beschrieb die Atmosphäre der Angst vor dem Vorstellbaren, nämlich der Abschaffung der Demokratie.
Von dem heute 42-jährigen Autor liegen inzwischen über vierzig Theaterstücke, Filmdrehbücher, Fernsehfilme und Hörspiele vor. Die meisten seiner Stücke wurden von den Theatern, die sie in Auftrag gegeben hatten, zunächst nicht angenommen. Daß sich die Royal Shakespeare Company 1985 zur fast gleichzeitigen Uraufführung von nicht weniger als drei Barker-Dramen entschloß, mußte wie ein Versuch der Wiedergutmachung erscheinen.
‘Crimes in Hot Countries’ (Verbrechen in heißen Ländern) und ‘The Castle’ (Die Festung) , die beiden ersten Stücke der Reihe, zeigten auf exemplarische Weise, was die Rezeption der späteren Barker-Texte so schwierig macht: Sie wirken subversiv, und zwar im mehrfachen Sinne. Das eine führt uns in ein entferntes Inselland, das aus strategischen Gründen von einer kleinen britischen Garnison besetzt gehalten wird. Was zunächst aussieht wie ein harmloser Ausflug in die großbritische Vergangenheit, entpuppt sich als Vexierbild einer Gegenwart, die allen kreativen Impulsen den Garaus macht.
Auch das zweite Stück mit dem Titel ‘The Castle’ blickt nur scheinbar zurück in die ferne Vergangenheit: in die Zeit der Kreuzritter. Es zeigt den Kampf zwischen der destruktiven Gewaltherrschaft des Patriarchats und einer matriarchalen, auf Mitgefühl, Liebe und kreativer Phantasie basierenden gewaltfreien Ordnung der Frauen. Der anarchische Impuls, das Reich der Phantasie, die Energie des Irrationalen wird brutal unterdrückt; die Leben stiftende Ordnung unterliegt der Leben vernichtenden patriarchalen Gewalt.
Diese subversiven Ideen finden Ausdruck in einer radikalen, subversiven dramatischen Form. Barkers essayistische Schreibweise, die Erfindung von ebenso bizarren wie vertraut anmutenden Charakteren und die stilisierte, mit sexuellen Metaphern durchsetzte Sprache treffen das Publikum unter die Gürtellinie des rationalen Bewußtseins und erzeugen eine Verunsicherung, die erschreckt, weil uns die Möglichkeit der schnellen Zuordnung versagt bleibt.
‘The Last Supper’ ist eine szenische Meditation über die biblische Geschichte des letzten Abendmahls. Im Mittelpunkt steht eine moderne Messiasfigur. Llov hat seine Jünger, ein bunter Haufen bizarrer Gestalten, zu einem Abschiedsessen geladen. Er fühlt, das seine Macht über die Schar seiner Anhänger nachläßt. Früher sind sie ihm blind gefolgt, haben ihn abgöttisch verehrt; inzwischen hat jeder von ihnen Gründe, den Meister zu tadeln oder ihn zu hassen.
Llov begreift, daß er sich seinen Nimbus und die Ergebenheit seiner Gefolgschaft nur erhalten kann durch den eigenen Tod. Mithilfe der zum neuen Gott erhobenen Masse des Volkes, ein Chorus, mit dem er von Zeit zu Zeit Zwiesprache hält, gelingt es Llov, den Prozeß der Entfremdung von seinen Jüngern zu beschleunigen und sie schließlich dazu zu bewegen, ihn umzubringen und, seinem Wunsch entsprechend, zu verspeisen.
Was sich, so abgekürzt dargestellt, anhören muß wie schnödeste Blasphemie, ist – wie immer sonst ein braver Kirchgänger darüber urteilen mag – ein von Anfang bis Ende faszinierendes, dichtes poetisches Gewebe, ein farbiges, nuancenreiches theatralisches Höllenspektakel vor der unsichtbaren Kulisse eines endlosen Krieges, dem die im Hintergrund vorbeibrausenden Soldatenzüge das unentbehrliche Kanonenfutter liefern.
Das Stück besteht aus einer einzigen langen Szene, die durch acht sogenannte Parabeln unterbrochen wird. Diese Parabel scheinen Reflexe auf die Lehren des Meisters zu sein, der durch das Kunststück der Transsubstantiation den eigenen Tod überlebt.
Die Inszenierung des Stückes war das erste Projekt eines neuen Theaterensembles, das sich nur eine Aufgabe gesetzt hatte: die Stücke Howard Barkers auf die Bühne zu bringen und einen Darstellungsstil zu entwickeln, der den allzu oft mißverstandenen Werken, ihrer komplexen Gestalt und sprachlichen Schönheit adäquaten Ausdruck verleiht.