Die Royal Shakespeare Company ist eines der größten, künstlerisch erfolgreichsten Schauspielensembles der Welt. Zu ihrem Repertoire gehören die Klassiker, vor allem der elisabethanischen Ära, und die Moderne. “Shakespeare steht im Zentrum unserer Arbeit“, heißt es programmatisch. Der sorgfältig gemischte Spielplan soll die Fähigkeit entwickeln, die Stücke Shakespeares modern und die der Modernen mit der an Klassikern geschulten Disziplin auf die Bühne zu bringen. Will man den Kritikern glauben, so ist man dem Anspruch in vollem Maße gerecht geworden.
Als Freund und Bewunderer der Royal Shakespeare Company, der anderthalb Jahrzehnte lang die Arbeit des Ensembles beobachten konnte, erlaube ich mir, der herrschenden Ansicht zu widersprechen und zu behaupten: In der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Werken und den modernen Klassikern des späten 19. und 20. Jahrhunderts hat uns die RSC durch ihre beispielhaft klaren, schnörkellos schönen Inszenierungen fast immer überzeugt, beeindruckt und gelegentlich in helle Begeisterung versetzt; doch ihre Shakespeare-Rezeption wirkte – und wirkt mitunter noch immer – auf geradezu erschreckende Weise antiquiert.
Dieses ketzerische Urteil bedarf der Erläuterung, weil es vereinfacht, verkürzt und verzerrt, doch der Wahrheit zuliebe, die der fast automatische Beifall, den man der Truppe zuteil werden läßt, verstellt. Ausnahmen, die diese These zu widerlegen scheinen – etwa Peter Brooks bemerkenswerter (wenngleich wohl auch überschätzter) ‘Sommernachtstraum’, Trevor Nunns ‘Macbeth’ mit Ian McKellen und Judi Dench im kleinen Warehouse Theatre, die beste und glaubhafteste Inszenierung des Stückes, die ich kenne, und Nunns erfolgreiche Versuche, einigen der klassischen Lustspiele durch Musicalisierung auf die Sprünge zu helfen – solche Ausnahmen bestätigen nur die Regel.
Zur Regel gehörte die Reihe der Königsdramen, die seit Peter Halls und John Bartons berühmter Chronik ‘Krieg der Rosen’ in den sechziger Jahren 1980/81 unter der Regie von Terry Hands zum ersten Mal wieder vollständig zur Aufführung kamen (wobei Alan Howard in allen acht Werken eine der Hauptrollen und bis auf ‘Heinrich IV’ stets die Titelfigur spielte). Zur Regel gehörte auch Trevor Nunns Neuinszenierung des zweiteiligen Schauspiels ‘Heinrich IV’, vorgestellt an einem einzigen Tag, womit die Royal Shakespeare Company vor drei Jahren ihr nach eigenen Wünschen maßgeschneidertes neues Haus im Barbican Centre eröffnete. Und zur Regel gehörten (wie übrigens auch die Mehrzahl der Shakespeare-Inszenierungen des Nationaltheaters in diesen Jahren) die jüngsten RSC-Produktionen der Shakespearschen Lustspiele, die (kaum wagt man’s zu sagen) trotz aller schauspielerischen Brillanz oft genug eher langweilten.
Daß Alan Howard zum Protagonisten der Royal Shakespeare Company werden und über Jahre hin bleiben konnte, schien mir in diesem Zusammenhang bezeichnend; ein Mann, der für seine theatralischen Kraftakte allen Respekt verdiente, von der Schar seiner Anhänger, wo immer er auftrat, mit Ovationen des Beifalls geehrt; ein Darsteller, der jede seiner Regungen mit höchster Anspannung an Konzentration erspielen, von außen her entwickeln zu müssen schien, dessen Manierismen auf direkte Wirkung berechnet waren, so daß Gestaltung zur Pose mißriet, die nicht ohne Reiz sein mochte, doch letztlich nicht überzeugen konnte. Und wenn er ganze Textpassagen wie Maschinengewehrsalven abfeuerte und schnelle Repliken kaum noch akustisch verständlich, geschweige denn gedanklich und psychologisch nachvollziehbar waren, dann hatte man das Gefühl, daß unser altes schlechtes, rhetorisches Theater, das wir ein für allemal überwunden zu haben glaubten, hier fröhliche Urständ feierte.
Wenn man in England mit Abscheu von der maßlosen Willkür deutscher Regisseure reden hörte, denen der Text eines Werkes nurmehr Mittel zu fremden Zwecken schien (ein Mißbrauch, dem zahlreiche Kritiker in Deutschland ganz offensichtlich Vorschub leisteten), galt für die Briten gerade das Gegenteil: die im Umgang mit Shakespeare von der Kritik sanktionierte Einfallslosigkeit; jene berühmte “Schädigung der klassischen Werke”, die schon Brecht beklagte: “Hauptsächlich verloren geht dabei deren ursprüngliche Frische, ihr damalig Überraschendes, Neues, Produktives. Die traditionelle Aufführungsart dient der Bequemlichkeit der Regisseure und Schauspieler und des Publikums zugleich”. Wo man, etwa aus mißverstandener Treue zum Original, auf den Versuch verzichtet, an den alten Werken durchschaubar zu machen, was uns ohne Durchleuchtung der Bezüge zur historischen Gegenwart unweigerlich verloren ginge, muß vieles von dem, was auf der Bühne sich zuträgt, uns sinnlos und darum entbehrlich erscheinen.
“Von Shakespeare bis Shaw, Glanz und Glorie unseres Theaters liegen bei der Herrschaft des gesprochenen Wortes“, schrieb einer der Kritiker nach der Stratford-Premiere von Terry Hands’ Neuinszenierung des Lustspiels ‘Much Ado About Nothing’. “Dem englischen Theater mangelt es an bildhaftem Ausdruck ... Man muß sich ins Ausland begeben, um zu entdecken, wie viel sich durch visuelle Bilder sagen läßt”. Die neue Inszenierung von ‘Viel Lärm um Nichts’ sei hier eine seltene Ausnahme. In der Tatsache, daß sich der Regisseur aus Plexiglaswänden und schwarzglänzenden Spiegelböden ein spektakuläres Bühnenbild bauen ließ, das (für hiesige Verhältnisse) geradezu ungebührlich auf sich aufmerksam macht, sahen die Kritiker das Besondere der Inszenierung, die darum wohl auch, wegen ihrer visuellen Wirkung, für das bevorstehende Berliner Gastspiel besonders geeignet schien. An Derek Jacobis Benedick und seinen Kollegen wird man die technische Meisterschaft studieren können, die nahezu perfekte Beherrschung der Mittel darstellerischen Ausdrucks, vor allem der Sprache, worin die Engländer, wie ich meine, kaum ihresgleichen haben in der Welt. Und man wird, wie ich hoffe, ebenso wahrnehmen, in welchem Maße sprachliche Brillanz mitunter auch zur Gefahr wird, weil sie der übertriebenen Formalisierung, Ritualisierung und Schematisierung Vorschub leistet, die geistige Erfahrungen mitunter erschwert.
Was sich im Theater – gerade durch höchste Kunstfertigkeit der Darstellung – anhand eines wahrhaft bedeutenden Bühnenwerkes der Neuzeit noch sagen läßt, beweist uns die Royal Shakespeare Company mit ihrer Inszenierung des ‘Lear’ von Edward Bond, der uns heute sehr viel mehr betreffen muß als das Bild der “hermeneutischen, in sich selbst verliebten, von Erscheinung und Mode bestimmten Gesellschaft” der Shakespeare-Komödie.
In einem Vorwort zum Stück schrieb Bond: “Unmoralisch wäre es, nicht über Gewalt zu schreiben”. Er tut es auf wirkungsvollste Weise, bis zu dem Punkt, an dem immer wieder einige der Zuschauer angesichts der vorgestellten Grausamkeiten in Ohnmacht sinken – wo doch kein Theater der Welt das Ausmaß der wirklich verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch nur annähernd begreifbar machen kann.