die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1984
Text # 200
Autor Simon Gray
Theater
Titel The Common Pursuit
Ensemble/Spielort Lyric Theatre Hammersmith/London
Inszenierung/Regie Harold Pinter
Uraufführung
Sendeinfo 1984.07.04/SWF Kultur aktuell/RB/SR/SFB/ORF Wien 1984.07.05/SRG Basel/Nachdruck: Darmstädter Echo

Simon Gray, Autor von vier Romanen, einem Dutzend Fernsehspielen und ebenso vielen Theaterstücken, sagt von sich, er sei ein Mann, der zwanghaft schreibe, “so etwas wie ein Kettenraucher“, doch da er am Anfang kaum wisse, wovon das Stück handle, das er zu schreiben beginne, bis die Charaktere allmählich hervortreten, sei für ihn Schreiben ein sehr langsamer, schmerzhafter Prozeß. “Ich beginne normalerweise mit einer Person in einem Raum, die etwas sagt, und hoffe, daß dann eine andere etwas darauf erwidert, und daraus entwickelt sich schließlich ein hoffnungsloses Durcheinander; doch solange das Durcheinander lebt, kann ich es ertragen“.

Simon Gray, Jahrgang 1936, studierte in Cambridge und ist seit Jahren Dozent für englische Literatur an einem Londoner College. Die meisten seiner Stücke sind, was man früher ‘comedies of manner’ nannte, Sittenkomödien aus dem Milieu der bürgerlichen Intelligenz, geistreiche Konversationsstücke über Verleger, Journalisten, Poeten (oder solche, die es sein möchten), Lehrer und Dozenten, in der Regel sehr gebildete, blitzgescheite, relativ erfolgreiche Intellektuelle in mittleren Jahren, die in besonderem Maße die Fähigkeit entwickelt haben, ihre Gedanken und Gefühle – oder deren Mangel – sprachlich zu artikulieren, mit Ironie und Witz und einem boshaften, mitunter selbstzerstörerischen Vergnügen an der Denunziation menschlicher Schwächen.

Sein jüngstes Stück mit dem kaum übersetzbaren Titel ‘The Common Pursuit’ (auf deutsch etwa ‘Das übliche Streben’ – nach höheren Zielen, Erfolg, Glück), soeben uraufgeführt im Lyric Theatre Hammersmith unter der Regie von Harold Pinter, verfolgt eine Gruppe von sechs Studenten der Universität Cambridge, die sich zur Gründung einer Zeitschrift für neue Literatur zusammenfinden und über entscheidende fünfzehn Jahre ihres Lebens miteinander verbunden bleiben.

Die vier Szenen des Stückes beleuchten vier Phasen ihrer gemeinsamen Geschichte, von ihrer ersten Begegnung in einem Studentenzimmer des Trinity College bis zum gewaltsamen Tod des zweifellos Begabtesten der Gruppe, einem eigenwilligen Poeten und späteren Dozenten für Moralphilosophie, der in seinem Testament die Freunde um die Ausrichtung seiner Beerdigung gebeten hat. Es ist eine Geschichte, die auf schmerzhafte Weise deutlich macht, daß jeder von ihnen in diesem oder jenem Sinne scheitert und vor dem eigenen Anspruch, mit dem er angetreten, versagt. Was sich im Laufe des Stückes zuträgt, kann hier nur andeutungsweise mitgeteilt werden. ‘The Common Pursuit’ variiert die aus früheren Stücken des Autors bekannten Themen Ehebruch, Lüge und Heuchelei, Eitelkeit und Egoismus, Apathie und Einsamkeit, Anspruch und Versagen, die Idee der verlorenenen Unschuld.

Simon Gray ist wiederholt mit John Osborne, Harold Pinter und Joe Orton verglichen worden, Autoren seiner Generation, die nach einer Zeit, in der das Theater auf Sprache keinen besonderen Wert zu legen schien, die Virtuosität des sprachlichen Ausdrucks wieder zum Kriterium ihres Schreibens gemacht haben. Harold Pinter, der nun schon zum sechsten Mal ein Stück von Simon Gray aus der Taufe hebt, hat in den geistreich witzigen, präzisen, sardonischen Dialogen Grays ohne Zweifel das Seelenverwandte entdeckt.

“Gray hat ein beinahe klinisches Interesse an Menschen und was sie zu Narren macht”, hieß es vor Jahren in einem Artikel des Londoner ‘Observer’; “Er ist fasziniert von den Motiven, die das Verhalten der Menschen bestimmen, mit wahrer Sammlerleidenschaft interessiert er sich für ihre Schwächen, Manierismen und Obsessionen”.

Der scharfe Witz der geschliffenen Sprache und die spielerisch leichte Behandlung der Stoffe macht seine Stücke zu Konversationskomödien; doch durch die täuschend harmlose Oberfläche des brillant geschriebenen Lustspiels dringen dunklere, tragische Untertöne. In ‘The Common Pursuit’ wird durch einen dramaturgischen Trick, die Drehung des letzten Bühnenbildes, die Zeitspanne der fünfzehn Jahre und die Entwicklung der Charaktere, die wir in vier Phasen miterlebt haben, wieder aufgehoben, und in einem Epilog sehen wir die sechs Personen wie in der ersten Szene des Stückes, als sie sich im Trinity College kennenlernten: Voll Hoffnung und Ehrgeiz und stolzen Worten, ein Bild von paradiesisch anmutender Unschuld vor dem Fall.

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