die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1987
Text # 221
Autor Luigi Pirandello/Nicholas Wright
Theater
Titel Six Characters In Search of an Author
Ensemble/Spielort Olivier Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie Michael Rudman
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1987.03.20/SWF Kultur aktuell/WDR/ORF Wien/Nachdruck: Darmstädter Echo

Mit der Erstaufführung einer neuen Bearbeitung von Pirandellos ‘Sechs Personen suchen einen Autor’ stellt sich im Olivier Theatre eine neue Nationaltheatergruppe unter der künstlerischen Leitung von Michael Rudman vor. Es ist das siebte zum Nationaltheater gehörende eigenständige Ensemble, das alle drei Bühnen des Hauses bespielen wird.

‘Sechs Personen suchen einen Autor’ von Luigi Pirandello ist (wie es im Untertitel heißt) “ein Stück, das noch gemacht werden soll”. Die sechs Personen, die eines Vormittags auf der Bühne eines Theaters erscheinen, geben sich zu erkennen als Figuren eines unvollendeten Schauspiels, die aus der Qual unaufgelöster Konflikte befreit werden möchten, was der Autor, der sie erfand und damit zum Leben erweckte, ihnen versagte.

Das 1921 in Rom uraufgeführte Drama wurde zum meistgespielten Theaterstück der Zwanzigerjahre, sein Autor dadurch weltberühmt. Es gilt noch immer als klassisches Werk des modernen Theaters, wird aber heute nur selten gespielt. So ist man dankbar dafür, daß das National Theatre von den fünfzig Jahre nach dem Tod Pirandellos frei gewordenen Aufführungsrechten Gebrauch macht und eine neue englische Fassung der ‘Sechs Personen’ vorstellt.

Nicholas Wright, der den Text bearbeitete, hat die Rahmenhandlung ausgeschmückt und gewissermaßen anglifiziert. Statt eines Pirandellostückes proben die Schauspieler ‘Hamlet’, bevor die sechs geheimnisvollen Gestalten bei verdunkelter Bühne und gewaltigem Donnergrollen plötzlich erscheinen und darauf bestehen, gehört zu werden. Danach nimmt das Geschehen den uns bekannten Verlauf. Der Direktor läßt sich dazu überreden, in Vertretung eines Autors das unvollendete Familiendrama auszuführen und die Rollen aus ihrer Halbexistenz zu erlösen, wobei wir Zeugen einer spannenden Realitätsverschiebung werden, die uns das Gefühl vermittelt, daß die schemenhaften Rollen, die in einem sinnvollen Stückganzen aufgehen möchten, ‘realer’ sind als die sie umgebende Theaterwelt, denn ihr Leiden ist nicht gespielt, sondern Wirklichkeit.

Pirandellos Stück über ein Stück, das noch gemacht werden soll, doch nicht zustande kommt, steht und fällt mit der Durchschaubarkeit seiner komplexen Struktur, wobei uns aufgehen sollte, daß hier nicht weniger als vier Realitätsebenen ineinander verschoben sind. Max Reinhardt scheint bei seiner berühmten Berliner Inszenierung des Stückes 1924 eine fünfte Ebene eingeführt zu haben, weil er die Echtheit und Lebendigkeit der Personen auf der Suche nach einem Autor der ihr privates Schicksal zuende dichten könnte, so glaubhaft zu suggerieren vermochte, daß der Eindruck entstand, das zunächst fragmentarisch und sinnlos erscheinende Leben müsse Zuflucht suchen beim Dichter, um den Sinn zu entdecken, der nur im Kunstwerk zu finden ist.

Es ist eine der Schwächen der neuen Bearbeitung des Pirandellotextes, daß sie den Schluß aus unerfindlichen Gründen verändert und dabei nicht nur der letzten Szene die Wirkung raubt, sondern das ganze Stück um eine Dimension verkürzt, weil sich das Werk als solches der Kunst, als Artefakt erst ins Bewußtsein bringt, wenn der Direktor die Zuschauer vor der Bühne entdeckt und uns aus dem Saal weisen läßt.

Scheinbar unbedeutende Einzelheiten, wie etwa die Frage, warum die ‘Personen’ Trauerkleidung tragen, können für die Dramaturgie des Stückes gleichwohl von großer Bedeutung sein. Die Konstruktion wird geschwächt, wenn dies nur auf den Tod des zweiten Mannes der Mutter bezogen wird, statt auf den ihrer Kinder, der zwar für uns überraschend kommt und erst am Ende des Stückes eintritt, doch von den ‘Personen’ längst gewußt wird.

Die Inszenierung von Michael Rudman sorgt dafür, daß die Strukturen des Textes eher verwischt statt klar herausgearbeitet werden, so daß viele der zum Verständnis der Vorgänge wichtigen Fragen offen bleiben. Die Verwischung der Konturen trägt dazu bei, daß das Stück wesentlich flacher wirkt als es ist. Was das Londoner Publikum, das sich am Premierenabend gut zu unterhalten schien, freilich nicht ahnen konnte.

Und wie verschieden selbst professionelle Kritiker auf ein und dieselbe Vorstellung reagieren, zeigt ein Vergleich der ersten Presseberichte. “Michael Rudman liefert die einleuchtendste Inszenierung des Stückes, die ich kenne ... eine perfekt eingestimmte, hinreißende Aufführung”, hieß es in der ‘Times’. Und in der ‘Financial Times’: “Das Nationaltheater begnügt sich damit, das Stück in verharmloster Fassung zu zeigen als schmackhaftes Hinterbühnendrama mit sonderbar melodramatischem Ausgang”.

(Was an ein anderes Stück von Pirandello denken ließ, welches da heißt: ‘So ist es, wie es Ihnen scheint’).

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