die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1972
Text # 46
Autor Harcourt Nicholls
Theater
Titel Look Forth With Love
Ensemble/Spielort Dark and Light Theatre/ London
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1972.10.19/SWF Kultur aktuell/ Nachdruck: Darmstädter Echo

Das Dark and Light Theatre ist das einzige gemischt-rassische Theater in London, das die Aufgabe übernommen hat, auf seine Weise zur Verständigung zwischen Weißen und Schwarzen beizutragen. Das bunte Völkergemisch, das der ausländische Besucher der britischen Hauptstadt als friedliches Nebeneinander der Rassen sieht, Ausdruck der sprichwörtlichen Toleranz im Mutterland der Demokratie, hat eine andere Seite, von welchem der Gast aus dem Ausland normalerweise nur wenig erfährt. Die aus den ehemaligen Kolonien immigrierten Schwarzen, die in Europa an den Segnungen jener Zivilisation teilhaben wollen, welche ihre heimischen Kulturen zerstörte, sind trotz formalrechtlicher Gleichstellung nur Staatsbürger zweiter Klasse, gerade gut genug, um die niederen Arbeiten zu tun, die man ihnen anvertraut, mehr nolens als volens geduldet, doch kaum geachtet. Durch die Kassandrarufe des erzkonservativen Enoch Powel bestärkt, treibt der Rassismus noch die sonderlichsten Blüten. Es gibt in London Wohnbezirke, die fast ausschließlich von Schwarzen bewohnt werden. Sie gehören zu den ärmsten der Stadt.

Das Dark and Light Theatre im Südlondoner Vorort Brixton, mit der S-Bahn eine Dreiviertelstunde vom Zentrum entfernt, spielt für die Leute, die in diesem Bezirk leben, eine gemischt-rassische Bevölkerung mit hohem Prozentsatz von Einwanderern von den karibischen Inseln. Ohne großen künstlerischen Ehrgeiz entwickeln zu können, weil dafür alle Mittel fehlen und die szenentechnischen Möglichkeiten äußerst begrenzt sind, hat das Dark and Light Theatre hier noch eine soziale Funktion. Die Stücke, die man aufführt, behandeln Probleme der Koexistenz der verschiedenen Rassen, in London und anderswo auf der Welt.

‘Look Forth With Love’, eine Komödie vor ernstem Hintergrund von dem schwarzen amerikanischen Autor Harcourt Nicholls, spielt in New York Greenwich Village, einem Stadtteil, der manche Ähnlichkeit hat mit dem Londoner Vorort Brixton. Ein schwarzer Popsänger und ein weißer Schriftsteller leben zusammen in einer Einzimmerwohnung. Beide tun sich mit dem Geldverdienen schwer. Jim träumt von einer großen Karriere als Sänger, findet aber keinen Job und muß darum mit Gelegenheitsarbeiten vorliebnehmen. Sein weißer Zimmergenosse Ken will als Romanautor hoch hinaus, scheut reguläre Arbeit und lebt von Zuschüssen seines Vaters und seiner Freundin, die ihn gelegentlich besucht. Im übrigen schmarotzt er von des anderen Brot und Erdnußbutter.

Das Verhältnis der beiden, das anfangs auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien, ist, weil Ken nominell die Wohnung gehört, höchst einseitig: Ken, der Weiße, beutet Jim aus, indem er dessen Leben, das Schicksal eines Talentes, das an den Bedingungen seiner sozialen Verhältnisse scheitert, zum Inhalt seines Romans macht, der nichts weiter ist als die Nachzeichnung dessen, was Jim ihm vorlebt. Er braucht Jim, seine Konflikte und Probleme, seine Visionen und Träume, die Kenntnis seiner Intimsphäre, um sein Buch beenden zu können. Als Jim den Zusammenhang ahnt und, angewidert und verzweifelt, sich aus der Umklammerung lösen und die Wohnung verlassen will, drückt Ken ihm die Waffe in die Hand, mit der – wie er wenig später erfährt– Jim sich erschießen und damit dem Zimmergenossen die Schlußpointe für seinen Roman liefern wird.

Das Stück mit dem eher bitter als harmlos-optimistisch gemeinten Titel “Blick voraus in Liebe“ (die ironische Umkehrung von “Blick zurück im Zorn“) ist formal filmisch konzipiert, mit Naheinstellungen, Kameraschwenks, Vor- und Rückblenden. Harcourt Nicholls, der Autor, besuchte nach seiner Schauspielausbildung eine New Yorker Filmfachschule und schrieb außer einer Reihe von Hörspielen bisher vor allem Drehbücher für Filme, für die er auf internationalen Festspielen mehrfach ausgezeichnet wurde.

‘Look Forth In Love’ spiegelt an einem modellhaften Einzelfall die Rolle der Schwarzen in einer Gesellschaft, die von Weißen beherrscht, doch auf die Schwarzen angewiesen ist.

Nach Oben