die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1991
Text # 262
Theater
Titel Black Poppies
Ensemble/Spielort National Theatre Workshop/Theatre Royal Startford East/London
Inszenierung/Regie John Burgess
Uraufführung
Sendeinfo 1991.05.22/SWF Kultur aktuell/WDR/RIAS/BR/DS Kultur (in versch. Fassungen)

Vor achtundzwanzig Jahren machte die englische Regisseurin Joan Littlewood mit der Premiere ihres Antikriegs-Musicals ‘Oh, What A Lovely War’ im Theatre Royal des Ostlondoner Vororts Stratford East Theatergeschichte. Bei der Verfilmung des Stückes unter der Regie von David Attenborough sieht man am Anfang – unvergeßlicher Eindruck – ein graues Meer von einfachen Kreuzen, soweit das Auge der Kamera reicht: Einer der vielen Soldatenfriedhöfe des Ersten Weltkrieges, auf denen Zehntausende junger Männer begraben liegen. Und dann ein rotes Meer aus Mohnblumen, in England Poppies genannt, die millionenfach auf den flandrischen Schlachtfeldern wuchsen. Die Mohnblume wurde zum Symbol für die Gefallenen, die “for Britain, King and Country” ihr Leben ließen. Poppy Day ist der britische Gedenktag des Waffenstillstands vom 11. November 1918, an dem die Engländer sich eine papierene Mohnblume ins Knopfloch stecken und mit staatlichen Feiern alljährlich der Toten der letzten Kriege gedenken.

Es ist sicher kein Zufall, daß jetzt im selben Theatre Royal die Premiere eines Stückes stattfand, das sich ‘Black Poppies’ nennt (Schwarze Mohnblumen), unter der Regie von John Burgess in der Werkstatt des Nationaltheaters entwickelt wurde und nun zum ersten Mal einem größeren Publikum vorgestellt wird.

‘Black Poppies’ ist ein außergewöhnliches Stück mit außergewöhnlicher Wirkung. Ein Stück ohne eigentliche Handlung, ohne Bühnenbild und ohne Kostüme, ein Stück, das nur aus Monologen besteht, die freilich spannender sind, als jede dramatische Konstruktion zum selben Thema gewesen wäre.

Der Text basiert auf authentischen Aussagen ehemaliger britischer Soldaten, die man aufgezeichnet und so geschickt zusammengestellt hat, daß wir anderthalb Stunden gebannt und oft fassungslos den Geschichten, die da erzählt werden, folgen und unglaubliche Dinge erfahren, von denen kaum einer zu wissen scheint oder die man nicht wahrhaben will, weil sie dem stolzen ‘Mutterland der Demokratie’ nur zur Schande gereichen.

Es sind Geschichten von schwarzen Soldaten der britischen Luftwaffe, Marine oder Armee. Sie handeln von Rassendiskriminierung. ‘Black Poppies’ ist dem Gedenken der schwarzen Soldaten gewidmet die in Zeiten des Krieges stets gut genug waren, das Land zu verteidigen und dabei ihr Leben zu lassen; die schon bei der militärischen Ausbildung, ihrer Umfunktionierung zu gehorsamen menschlichen Kampfmaschinen, allen Schikanen ausgeliefert waren, die sich der Rassenhaß weißer Vorgesetzter einfallen lassen mochte, von den gröbsten und ordinärsten Beschimpfungen bis zur körperlichen Mißhandlung; die in den Kämpfen verheizt, auf Drillplätzen geschunden, in den Selbstmord getrieben oder um den Verstand gebracht wurden; die, sofern sie überlebten, zu Hause ungeachtet militärischer Heldentaten als ‘Nigger’ oft nicht einmal Arbeit oder ein Zimmer fanden und die heute noch mit der Tatsache leben müssen, daß sie, auch wenn sie in England geboren sind, stets Bürger zweiter Klasse bleiben.

Daß die meisten von ihnen ohne Wehgeschrei oder Aggression und ohne den Rassenhaß, dem sie begegneten, umzukehren, oft mit Witz und Humor ganz einfach berichten, was ihnen widerfuhr, macht die Sache nur umso eindrucksvoller. Was sich stattdessen mitteilt, ist ein Gefühl von Resignation und Bitterkeit über erlittenes Unrecht, vor allem aus den vielen Berichten über die (offensichtlich von oben verfügte) Benachteiligung bei der Beförderung schwarzer Soldaten. Typisch dafür ist Juniors Geschichte von seiner Begegnung mit einem Luftwaffenmajor, der mit Entsetzen zur Kenntnis nimmt, daß sein ehemaliger Ausbilder, weil er die falsche Hautfarbe hat, auch fünfzehn Jahre später noch immer als Sergeant dient. Oder die Geschichte von Scottie Muir, dem berühmtesten Hornbläser der britischen Armee, der nach Jahren vergeblichen Wartens auf die längst fällige (und natürlich später auch über die Höhe seiner Pension entscheidende) Beförderung seinen vorzeitigen Abschied nahm.

Bitterkeit – doch manchmal auch Empörung und Zorn, wie in der Geschichte des Corporal Friend über die von Vorgesetzten geduldeten Exzesse eines besonders brutalen Rassenhassers. Friend beschreibt, was er mit Kameraden erlebt hat, die dem Druck auf die Dauer nicht gewachsen waren und irgendwann überschnappten; wie jener Tony McKay, der keinen seiner Freunde wiedererkannte: “Ich möchte heulen, wenn ich daran denke und an die, die Schuld daran sind. Es ist ein schmutziges System“.

Die Aufführung beginnt ironisch mit der Vorstellung eines Propagandafilms des britischen Informationsministeriums aus dem Jahre 1943, der sich an die schwarzen Engländer richtet und ihnen weismachen will, daß die schwarzen Soldaten während ihres Militärdienstes ein herrlich interessantes, tolles Leben führen.

Und sie endet mit einer Party im Foyer des Theaters, bei der die Schauspieler mit hinreißend improvisierten Gesängen und Liedern für so viel übermütig ausgelassene Stimmung sorgen, daß das Publikum begeistert zu tanzen beginnt – und (wenn die persönliche Note erlaubt ist) einer, der die Vorstellung sah, damit er den Hörern in Deutschland darüber berichten könne, sich vornahm, am übernächsten Abend das ganze ein zweites Mal zu erleben.

Nach Oben