Im März wurden die schwarzen südafrikanischen Schauspieler John Kani und Winston Nschtona im Old Vic Theatre als Wladimir und Estragon in Becketts ‘Warten auf Godot’ umjubelt. Im Mai wird Harold Pinters ‘Hausmeister’ am Nationaltheater erstmals mit schwarzer Besetzung vorgestellt. Und seit einigen Tagen ist die neue westindische Fassung von Shakespeares ‘Maß für Maß’ im Lyttelton Theatre das meist besprochene Londoner Bühnenereignis.
Während im überwiegend schwarzen Stadtteil Brixton Jugendliche, die mit illegalen und legalen Mitteln für Gleichberechtigung vor dem Gesetz demonstrierten und sich von den Gesetzeshütern die Köpfe blutig schlagen lassen mußten, schien man anderswo schon lange vor dem Ausbruch der Gewalttätigkeiten in Brixton sich um einen Ausgleich der Ungerechtigkeiten Gedanken gemacht zu haben. Wenn weiße Akteure sich seit Jahrhunderten die Gesichter schwärzen, um Othello zu spielen, erscheint es nur recht und billig, in einer gemischtrassigen Gesellschaft wie der britischen nach der Devise, daß Shakespeare allen gehöre, auch den Versuch zu machen, seine für Weiße geschriebenen Stücke mit schwarzer Besetzung aufzuführen, wo dies möglich erscheint. Die Intendanz des Nationaltheaters, die sich dazu etwas einfallen ließ, schien eingesehen zu haben, daß man versuchen müsse, wenigstens einigen der besten Schauspielern schwarzer Hautfarbe, die nur allzu selten im Theater und dort fast nie in Inszenierungen klassischer Werke zum Zuge kommen, die Möglichkeit zu geben, sich in Shakespeare-Rollen auf einer der großen Bühnen zu bewähren. Und wenn auch prompt einige der schwarzen Autoren das Experiment kritisierten, als Versuch der Ablenkung von den aktuellen Problemen der schwarzen Bevölkerung, denen man durch Kommissionierung neuer Werke von schwarzen Stückeschreibern Gehör verschaffen sollte, so läßt sich doch nicht leugnen, daß man im Bereich des Theaters, der auch in Großbritannien noch immer weitgehend als Reservat der Weißen anzusehen ist, mit der Überwindung rassischer Schranken begonnen hat.
Auf die Frage: Darf man Shakespeare verändern? Gilt noch immer die klassische Antwort: Man darf, wenn man kann. Ob die Bearbeitung eines Werkes sich rechtfertigen läßt, hängt davon ab, ob eine zeitliche oder örtliche Verlagerung ohne Vergewaltigung des Stückes und seines geistigen Gehaltes gelingt und der Bearbeiter, der den Wortlaut des Textes verändert, dem Werk für das, was er ihm nimmt, auch etwas Wesentliches hinzugewinnt. Michael Rudmans Experiment der Übertragung von ‘Maß für Maß’ in eine nicht näher bezeichnete karibische Landschaft “zwischen Haiti und Trinidad“, einen modernen Inselstaat mit überwiegend schwarzer Bevölkerung, beginnt vielversprechend mit einer Casinoszene im Regierungspalast, wo sich elegant gekleidete Paare zu den dezenten Klängen einer Zweimannkapelle im Tanze wiegen, der Herzog (Stefan Kalipha), ein gut aussehender Mann in jüngeren Jahren mit modischem Dinner-Jacket und roter Orchidee im Revers sich lässig im Liegestuhl niederläßt und in Gegenwart seines höchsten Beamten Eskalus, einem Weißen, der schon in Kolonialzeiten auf einflußreichen Verwaltungsposten gedient haben dürfte, die Regierungsgeschäfte seinem Stellvertreter Angelo überträgt, den er wegen seiner Sittenstrenge und Härte für geeignet hält, die Korruption im Lande zu bekämpfen. Angelo (Norman Beaton) erscheint im weißen Rundkragen des Geistlichen, eine sinistere Bischof-Muzurewa-Variante, ein Mann, dem man die despotische Strenge gegen die Opfer seiner Jurisdiktion eher glaubt als das auch zur Rolle gehörende unbändige Verlangen nach dem schönen Leib Isabellas.
Peter Straker spielt Lucio als eleganten Zuhälter, der für eine Soloeinlage, den Vortrag eines neuen, wirklich brillant geschriebenen Couplets über die geschäftsfördernden Folgen sexueller Verbote für das leichte Gewerbe, verdienten Sonderapplaus erhielt. Auch die übrigen komischen Rollen und ihre Darsteller kommen in dieser karnevalistisch beschwingten, in den Massenszenen übermütig bunten Inszenierung in vollem Maße auf ihre Kosten.
Und dennoch wird man während der ganzen Aufführung das Gefühl nicht los, daß an der Übertragung des Stückes ins Milieu der karibischen Inseln etwas grundsätzlich falsch sei. So muß uns zum Beispiel eines der wichtigsten Motive, die Bedeutung sexueller Unberührtheit wie gar die Verwerflichkeit vorehelicher Liebesfreuden bei Verlobten in der hüftenschwingenden Calypso-Welt einigermaßen befremden. Bei allem Abscheu gegen den Versuch des Mißbrauchs von Personen im Abhängigkeitsverhältnis scheint uns der Wert eines Menschenlebens heute jedenfalls höher zu sein als die Erhaltung der ominösen Jungfräulichkeit. Die elegante, kunstvolle Sprache der Shakespeare-Verse paßt nicht mehr zum Gehabe der Rollenträger, die Worte scheinen den schwarzen Schauspielern quer im Munde zu liegen, sie kämpfen mit dem Rhythmus der Verse, eine falsche Künstlichkeit breitet sich aus, Feinheiten der Charakterisierung gehen verloren. Dazu kommen unbegreifliche Fehlbesetzungen, wie die der zentralen Rolle des Herzogs. Amateurhafte Unsicherheiten ruinieren die Schönheit des Textes und die Glaubhaftigkeit der Charaktere.
Es sei eine Form der Rassendiskriminierung, meinte einer der schwarzen Schauspieler vor einigen Tagen im britischen Fernsehen, wenn bei der heutigen Arbeitsmarktlage und dem Überangebot an Schauspielern schwarzer Hautfarbe Othello noch immer ausschließlich von Weißen dargestellt werde. Peter Hall, der Intendant des Nationaltheaters, gab daraufhin zu verstehen, daß dafür nicht rassische, sondern rein künstlerische Gründe maßgeblich seien. Bis es einen schwarzen Darsteller gebe, der Shakespeares Othello spielen könne, müsse man sich mit den weißen Kollegen behelfen.