die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1977
Text # 112
Autor Sam Shepard
Theater
Titel Curse of the Starving Class
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Nancy Meckler
Uraufführung
Sendeinfo 1977.04.23/WDR/SWF Kultur aktuell (Erstfassung) 1977.04.24/ORF Wien/Nachdruck: Darmstädter Echo 1977.04.27/DLF (Zweitfassung)

“Ich wünschte, ich könnte ein Stück schreiben wie ‘Eines langen Tages Reise in die Nacht’”, meinte Sam Shepard vor kurzem in einem Interview. ”Mein Stück ist nicht nur Melodrama, es geht nicht nur um das Verhältnis der Personen zueinander; sie sind der Vordergrund eines dahinterliegenden allgemeinen Verfalls”. Shepards neues Stück ‘Curse of the Starving Class’ (Fluch der verhungernden Klasse), ein Auftragswerk des New Yorker Produzenten Joe Papp, das soeben, noch vor der geplanten amerikanischen Premiere, am Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt wurde, zeigt eine Entwicklung an, die von den experimentellen, phantastisch-poetischen Texten der frühen Siebzigerjahre wegzuführen scheint zum realistischen Familiendrama in der Nachfolge Tschechows, O’Neills und Arthur Millers.

Als Shepard 1970 nach London herüber kam, war er in Europa noch ein Unbekannter. Er hatte mit Ellen Stewarts New Yorker La-Mama-Gruppe zusammengearbeitet, war Mitautor des Drehbuchs zu Antonionis Film ‘Zabriskie Point’ gewesen. Einige seiner Einakter waren als Lunchtime-Produktionen oder Werkstatt-Inszenierungen kleiner experimenteller Theater in London vorgestellt worden, ohne größeres Aufsehen zu erregen. Der Durchbruch gelang erst mit den Stücken ‘Der Zahn des Verbrechens’ und ‘Die unsichtbare Hand’, die Sam Shepard den Ruf des ”bedeutendsten amerikanischen Bühnenautors der jüngeren Generation” einbrachten. ‘The Tooth of Crime’ beschrieb den ritualisierten Kampf zweier Gangster, die amerikanische Gesellschaft als Unterwelt, in welcher die nackte Gewalt regiert und nur der ‘Stil’ im Gebrauch von Gewalt über Tod und Leben entscheidet. ‘The Unseen Hand’ zeigte die Begegnung eines uralten Cowboys mit einem Astralwesen, das von einem anderen Milchstraßensystem zur Erde gekommen ist, um Genossen zu werben für den Befreiungskampf seiner von schwarzen Magiern versklavten Rasse. Die phantastischen Ereignisse und Bilder, von denen die Stücke lebten, folgten einer inneren Logik, die elektrisierende Spannung erzeugte und verblüffende Effekte hervorbrachte.

‘Curse of the Starving Class’ beschreibt dagegen mit vergleichsweise realistischen Mitteln den Zusammenbruch einer amerikanischen Farmersfamilie, die dem Fluch der Armut nicht entrinnen kann. Die Farm wird nicht mehr ertragreich bewirtschaftet, an neue Möglichkeiten des Erwerbs denkt man nicht; als einziger Ausweg aus der Misere erscheint die Flucht: Der Vater träumt von einem Neuanfang in Mexiko und betäubt seine Sorgen mit Alkohol; die Mutter versucht, hinter dem Rücken des Mannes das Haus zu verkaufen, um mit den Kindern nach Europa auszuwandern; die halbwüchsige Tochter stürzt sich in kriminelle Abenteuer; ihr Bruder sehnt sich nach den “unendlichen Möglichkeiten” Alaskas, doch hält, als es draufankommt, verzweifelt fest an Haus und Hof, als gälte es das Leben. Später erfährt man, daß der Vater, um seine Schulden zu decken, im Suff den ganzen Besitz bereits für einen Schandpreis verkauft hat. Die Grundstücksspekulanten umkreisen das Haus wie Geier, die sich zum Überfall auf die geschwächten Opfer rüsten.

In langen poetischen Arien monologisieren die Personen über den Fluch, der über der Familie hänge, vor dem es kein Entrinnen gebe. So wie der Vater zwanghaft dem Vorbild seines Vaters folgte, fühlt sich der Sohn in die verhaßte Rolle des Vaters gedrängt. Als der Alte schließlich, ausgenüchtert, wieder Hoffnung schöpft und den Untergang der Familie noch einmal abwenden zu können glaubt, erscheint der Sohn in den abgelegten Kleidern des Vaters und beginnt, in dem verpfändeten Haus wie von Sinnen zu wüten. Der Alte sucht das Weite. Mit dem Bild des Adlers, der sich mit einer Katze um die Beute rauft (wie Vater und Mutter um das gemeinsame Haus), bis beide halb zerfleischt vom Himmel stürzen, endet das Stück.

Während der Titel den irreversiblen Trend der Geschichte, eine historische Bewegung, nämlich den sicheren Untergang des bäuerlichen Familienbetriebs, beschwört, kann man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß hier das Unglück nur darum so unvermeidlich erscheint, weil die Personen es so sehen. Indem die Familie das ihr durch die geschichtliche Entwicklung auferlegte Schicksal annimmt, beschleunigt sie den Prozeß und wird mitschuldig am eigenen Untergang.

Nancy Meckler läßt das Stück auf buntgemustertem Küchenbodenlinoleum spielen, umgeben von perspektivisch angeordneten Telefonmasten vor blaugrauem Bühnenhorizont. Einziges Mobiliar der Küche sind ein Tisch, ein funktionsfähiger Elektroherd, auf dem gelegentlich Spiegeleier gebraten werden, und ein riesiger Kühlschrank, dessen leere Fächer zum oft zitierten Symbol der Armut werden.

 

Nach Oben