die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1975
Text # 301
Autor William Shakespeare/Charles Marowitz
Theater
Titel Measure for Measure
Ensemble/Spielort Open Space Theatre/London
Inszenierung/Regie Charles Marowitz
Hauptdarsteller Nicholas Simmonds
Uraufführung
Sendeinfo 1975.08.29

‘Measure for Measure’ (Maß für Maß), zunächst angekündigt als ‘Half Measure' (Halbes Maß), ist die fünfte Bearbeitung eines Shakespeare-Stückes, die Charles Marowitz im Londoner Open Space Theatre vorstellt.

Weil er die repetitiven Klassikerinszenierungen für sinnlos hält, versucht Marowitz, die großen Originale gegen den Strich zu bürsten. Durch rigorose Beschneidung, Umstellung der Szenenfolge und Konzentration auf ein einziges Thema der Handlung, das nach verständlicher Logik ohne Umschweife durchgeführt wird, verkehrt sich die Moral der Stücke nicht selten ins Gegenteil. Die komplexe Struktur der Originalwerke geht verloren; dafür tauchen neue Motivzusammenhänge auf, neue Konstellationen.

Die vorliegende Fassung von’Maß für Maß’ ist auf die Motive Recht und Gerechtigkeit, Sexualität und Macht reduziert. Das Publikum sitzt hinter hölzernen Barrieren wie die Zuschauer im Gerichtssaal. Gegenüber auf bühnenartigem Podest der Thronsessel des Herzogs von Wien, oberster Gesetzgeber und Richter eines imaginären Kleinstaates.

Die Einsetzung Angelos als Repräsentant des Herzogs für die Zeit seiner Abwesenheit; die Verhaftung und Verurteilung Claudios; Isabellas Bemühungen, den Bruder zu retten; Angelos Versuch der Erpressung unter Ausnutzung des Abhängigkeitsverhältnisses und der abscheuliche Betrug an dem Mädchen geschehen, wie sie bei Shakespeare im Buche stehen.

Gestrichen sind alle Nebenhandlungen, entfernt alle märchenhaft beschönigenden Elemente, samt der Deus-ex-machina-Wende am Schluß des Stückes, der gerade noch rechtzeitigen Rückkehr des Herzogs, der alles Unrecht begleicht und, um das Maß seiner christlichen Güte voll zu machen, den Erzschurken Angelo begnadigt.

In Marowitz’ Neufassung ist das Gesetz, das der Sittenlosigkeit im Staat wehren soll, selbst schon von allem Anfang an korrupt und übel, Instrument der maßlosen Macht des Feudalherren über das Volk. Weisheit, Selbstlosigkeit und Güte des Herrschers sind illusionär, seine Gewalt ist real, und die Loyalität der Regierenden untereinander garantiert die Erhaltung der Macht.

Das bedeutet, aufs Stück bezogen: Isabella gibt sich Angelo hin, um den Bruder zu retten; Angelo läßt das Todesurteil an Claudio vollstrecken; der Herzog deckt seinen Statthalter, erklärt Isabellas Beschuldigungen für verleumderisch und läßt sie verhaften. In einer epilogartigen Coda-Szene sitzt der Herzog mit Angelo und seinem Helfer beim Festmahl, mit höhnischem Gelächter über Isabellas Niederlage, wie nach einem gelungenen Streich.

Nicholas Simmonds spielt die Rolle Angelos mit großer Ruhe und uneitel selbstbewußter Souveränität, die keinen Augenblick am Erfolg eines Vorhabens, zu dem er sich einmal entschlossen hat, zweifelt. Stille und äußerste Einfachheit in Haltung und Ausdruck signalisieren die Gefährlichkeit des gnadenlosen Mannes. Der Herzog schrumpft dagegen zum charakterlos schematisch seiner Funktion entsprechenden Despoten. Die übrigen Rollen sind entweder Büttel oder Opfer der Herrschenden.

Höhepunkte des Marowitz-Stückes sind die traumhafte stumme Szene, in welcher Claudio in seiner Todesangst, mit der Hoffnung, sich damit freikaufen zu können, die Schwester selbst dem Statthalter zuführt; die Entkleidung der None hinter der überdimensionalen Gesetzesrolle, die während des ganzen Stückes von der Bühnendecke bis zum Arenaboden herabhängt und plötzlich transparent wird, um das Verbrechen, das die Gesetze decken, zu zeigen; Isabellas Schrei, wenn sie ahnungslos das schwarze Tuch von einer Büste zieht und darunter den abgeschlagenen Kopf des Bruders findet; sowie der Chor der Stimmen aus Bruchstücken sich widersprechender Reden, der wie ein Schwarm böser Vögel Isabellas gemartertes Gewissen umkreist.

Die optimistische Märchenromantik, die Shakespeares ‘Maß für Maß’ durchzieht und das grausame Ende der Handlung zuguterletzt auffängt, hat hier ausgespielt. Der pessimistische Realismus des 20. Jahrhunderts übernimmt die Szene.

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