die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1989
Text # 245
Autor William Shakespeare
Theater
Titel King Lear
Ensemble/Spielort Old Vic Theatre/London
Inszenierung/Regie Jonathan Miller
Hauptdarsteller Eric Porter/Gemma Jones/Frances de la Tour
Neuinszenierung
Sendeinfo 1989.03.31/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR/RB/Nachdruck: Darmstädter Echo

“Das berühmteste Bühnenhaus des englischen Theaters öffnete seine Tore am Montag, dem 11. Mai 1818“. So beginnt, ohne Scheu vor Superlativen, das erste Kapitel eines Bilderbuches zur Geschichte des Londoner Old Vic Theatre, das im Juni 1982 von dem kanadischen Industriellen Ed Mirvish gekauft wurde, der es liebevoll renovieren und daraus das schönste alte Theater der britischen Hauptstadt machen ließ. Edmund Kean gehört zu den großen Darstellern, die schon im 19. Jahrhundert darin aufgetreten sind. Doch die erste theaterhistorisch wirklich bedeutsame Phase, in welcher das Old Vic als Bühne des klassischen Repertoires, vor allem der Werke Shakespeares, auch internationale Berühmtheit erlangte, war die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts.

Nahezu alle großen Namen, die das englische Theater in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat (Sybill Thorndike, John Gielgud, Laurence Olivier, Ralph Richardson, Flora Robson, Edith Evans, Donald Wolfit, Michael Redgrave, Peggy Ashcroft, Vivian Leigh, Alec Guinness, Peter O’Toole, Richard Burton, Albert Finney und viele andere) sind mit der Geschichte des Hauses verbunden. Als es 1963 endlich zur Gründung eines britischen Nationaltheaters kam und man ein Schauspielhaus brauchte, das ein so großes Ensemble bis zur Fertigstellung des geplanten neuen Gebäudes beherbergen könnte, fiel die Wahl wie selbstverständlich auf das Old Vic. Als das Nationaltheater zwölf Jahre später in sein eigenes Haus übersiedelte, schien dies das Ende des Old Vic zu bedeuten. Es war eine Zeitlang verwaist – bis überraschend Rettung aus dem Ausland kam. Und als man 1987 Jonathan Miller zum künstlerischen Direktor des mit großem finanziellen Aufwand renovierten Theaters ernannte, durfte man hoffen, daß für das ehrwürdige Old Vic eine neue Ära beginnen werde.

Miller, eine der gescheitesten, gebildetsten und interessantesten Persönlichkeiten des englischen Theaters, sorgte für einen anspruchsvollen Spielplan und die Einführung eines hierzulande kaum bekannten Abonnementsystems. Doch obwohl die Londoner Kritiker auch bemerkenswert positiv auf die künstlerischen Resultate seiner ersten Spielzeit im neuen Old Vic reagierten, darf man wohl sagen, daß die Qualität der Inszenierungen die hohen Erwartungen bisher leider noch nicht erfüllte.

Zur Eröffnung der zweiten Spielzeit stellt Miller in diesen Tagen seine neue Inszenierung von Shakespeares Tragödie ‘King Lear’ dem Londoner Publikum vor. Eric Porter, der vor kurzem noch als Big Daddy in Tennessee Williams’ ‘Katze auf dem heißen Blechdach’ im Nationaltheater auf der Bühne stand, spielt die Titelrolle, neben Gemma Jones und Frances de la Tour als Goneril und Regan, den schrecklichen Töchtern des alten Mannes.

Das Bühnenbild für die Szenen am königlichen Hofe – hohe, schwarze, fensterlose Ziegelwände – wirkt finster bedrohlich wie unüberwindbare Gefängnismauern. Für die Szenen im freien Feld bleibt die Bühne leer; während des Sturms hängen riesige flatternde schwarze Tücher über den Köpfen der Schauspieler, dunkle Wolkenfetzen, von Blitzen umzuckt. Und wie in Millers früheren ‘Lear’-Inszenierungen, ist die Rolle des Narren wieder mit einem Darsteller besetzt, der nicht jünger sein kann als der König selbst und sich wie sein Alterego verhält, die Stimme seines Gewissens.

Eric Porter spielt einen starrköpfigen Despoten, der am Anfang des Stückes noch so energisch und selbstbewußt souverän erscheint, daß es schwer fällt sich vorzustellen, warum der König die Regierungsgeschäfte an seine Töchter abgeben will. Wenn Lear begreift, was er sich damit angetan hat, weiß Porter stimmlich alle Register der Raserei zu ziehen. Er wirkt imponierend, läßt aber die Zuschauer merkwürdigerweise innerlich unberührt. Und da auch andere Figuren des Stückes seltsam hölzern und unbeteiligt erscheinen die ganze Aufführung etwas Verhuschtes, Improvisiertes, ja Formloses hat, muß man wohl wieder einmal die Regie dafür verantwortlich machen, daß die Poesie des großen Werkes fast völlig verloren geht und der Eindruck entsteht, daß die Ereignisse, die es uns nahe bringen soll, in weiter theatralischer Ferne liegen.

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