die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1986
Text # 218
Autor William Shakespeare
Theater
Titel King Lear
Ensemble/Spielort Olivier Theatre/ National Theatre/London
Inszenierung/Regie David Hare
Hauptdarsteller Anthony Hopkins
Neuinszenierung
Sendeinfo 1986.12.12/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR/ORF Wien/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

“Shakespeares gröstes Stück”, nennt Anne Barton, Professorin für englische Literatur in Cambridge, die Tragödie ‘King Lear’. – “Je größer ein Stück“, schrieb Harley Granville Barker, einer der geistigen Väter des britischen Nationaltheaters, “je größer ein Stück, umso unwahrscheinlicher seine perfekte Darstellung“. Sollte das die Erklärung sein für die unglaubliche Tatsache, daß das größte Stück des größten englischen Dichters im größten Theater des Landes bisher nicht gespielt worden ist?

Regisseur David Hare, der sich die Aufgabe zugemutet hat, die historische Schuld zu begleichen, glaubt, daß Peter Brooks legendäre ‘Lear’-Inszenierung von 1962 mit Paul Scofield in der Titelrolle schuld daran sei. Als kaum erreichbares Vorbild habe sie auf Regisseure und Schauspieler entmutigend gewirkt. Immerhin hätten Brook und Scofield bewiesen, daß das Stück nicht unspielbar sei – vorausgesetzt, man hat einen Darsteller vom Format eines Scofield, Olivier oder Gielgud, den es nur allzu selten gibt. Mit Anthony Hopkins haben die Engländer wieder einen Lear, der den Vergleich mit den Großen der älteren Generation nicht zu scheuen braucht.

Hopkins’ Lear, eine bullige, untersetzte Gestalt mit aschfahlem Gesicht, kurzgeschorenem Schädel und struppigem Bart, wirkt zunächst äußerlich noch wie ein Mann im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte; ein Autokrat, der brutal seine Macht zu gebrauchen versteht, absoluten Gehorsam verlangt und unbarmherzig zu strafen gewohnt ist; ein tyrannischer Herrscher, mit dem sich nicht räsonnieren läßt, der nur sich selber kennt, nur seinen eigenen Impulsen folgt und auch, wenn er spricht, in sich versunken bleibt, mit sturem, verschleiertem Blick ins Leere glotzt, keinen anderen wirklich zu sehen scheint, autistisch und geistig blind. Seine Stimme ist rauhkehlig, bellend und barsch, sein ganzes Gebaren abstoßend autoritär und unangenehm.

Doch die robuste Erscheinung täuscht. Die Aufteilung seines Reiches, die Enterbung der Lieblingstochter, die Ablehnung jedes sinnvollen Rates und die Verbannung des treuen Kent sind schon der reine Irrwitz. Die Schwäche, die möglicherweise zu unrecht seinem Alter zugeschrieben wird, sitzt ihm im Kopf: Lear ist blind, bis er, durch ungeheures Leid um den dummen Verstand gebracht, sehend wird. Wie Gloucester durch Blendung zur Einsicht, gelangt Lear durch Wahnsinn zur Weisheit.

Lear, der nach seiner Aussetzung in Nacht und Sturm noch wie ein zerzauster, trotzig grollender Waldschrat gegen Blitz und Donnerwetter wütet, erscheint im Verlauf des Stückes immer ruhiger und gelöster und, wenn er dem alten Gloucester wieder begegnet, beinahe heiter und verspielt. Umso erschütternder wirkt der Augenblick, da die beiden Greise einander erkennen und für eine Weile, Hand in Hand, lächelnd beieinander stehen. In seiner letzten Szene, wenn er mit der toten Cordelia im Arm die Bühne betritt, erleben wir Lear so majestätisch, klar, stark und menschlich, als sei er von allem Irrsinn der Welt geheilt.

Es ist das Verdienst von Anthony Hopkins, daß er alle naturalistischen Töne und Gesten meidet und ohne heiße Luft und gequetschte Gefühle eine wunderbar herbe, distanzierte, auf den geistigen Gehalt des Textes konzentrierte Darstellung der Rolle gibt.

Regisseur David Hare läßt dem gewaltigen Stück auf bilderlos leerer Bühne seinen Lauf. Große Leinwandsegel, die aus der Höhe herabgelassen, verschoben und ganz oder teilweise wieder hinaufgezogen und raffiniert angestrahlt werden, deuten die Ortswechsel an.

Hares Inszenierung ist gewiß nicht “die perfekte Darstellung“ des Werkes (die es vielleicht gar nicht geben kann). Es ist eine Aufführung, die manchmal etwas spröde und nüchtern wirkt, aber dafür den Text in einer Weise illuminiert, daß einige der berühmten Sätze einen ganz frischen, neuen Klang haben und sich anhören, als seien sie für unsere politische Gegenwart geschrieben; wie etwa der Spruch des blinden Gloucester: “Es ist der Fluch der Zeit, daß Tolle Blinde führen”.

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