die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1988
Text # 238
Autor William Shakespeare
Theater
Titel The Tempest
Ensemble/Spielort Old Vic Theatre/London
Inszenierung/Regie Jonathan Miller
Hauptdarsteller Max von Sydow
Neuinszenierung
Sendeinfo 988.10.13/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR/RIAS/HR (teilw.) 1988.10.17/SRG Basel/Nachdruck: Darmstädter Echo

Man könnte glauben, daß der Orkan, der vor fast genau einem Jahr über die britische Insel fuhr, Millionen von Bäumen niederriß und die Städte und Dörfer Südenglands verwüstete, die britischen Theater allenthalben bewogen hätte, Shakespeares mutmaßlich letztes großes Schauspiel ‘The Tempest’ wieder einmal aufzuführen, ein Stück, das, wie man glaubt, seine Entstehung einem aufsehenerregenden Ereignis des Jahres 1609 verdankt, der zufälligen Entdeckung der Bermudas durch englische Auswanderer, die in einem schweren Sturm Schiffbruch erlitten und sich zu einer der Inseln retten konnten.

1988 wurde wie auf geheime Verabredung zum Jahr des ‘Sturms’: Mit der Trilogie der späten ‘Romanzen’ ‘Das Wintermärchen’, ‘Cymbeline’ und ‘Der Sturm’ nahm Peter Hall als Intendant vom Nationaltheater Abschied; wenig später brachte die Royal Shakespeare Company ihre Neuinszenierung des ‘Tempest’ in Stratford-on-Avon heraus und wird sie demnächst nach London überführen; beim diesjährigen Edinburgh Festival zeigte das japanische Ninagawa-Ensemble seine von der Tradition des No-Theaters inspirierte Fassung des Stückes; und während ‘Der Sturm’ auch auf anderen englischen Bühnen zu sehen ist und ein Gastspieltheater damit zur Zeit durch die Lande reist, stellt das (gerade durch seine Shakespeare-Inszenierungen früher berühmte) Old Vic Theatre in London nun den ‘Sturm’ mit dem schwedischen Schauspielerstar Max von Sydow unter der Regie von Jonathan Miller vor, der das ebenso schöne wie schwierige Werk vor allem als poetische Parabel über Kolonialismus versteht.

Ein aus seinem Land vertriebener Aristokrat ist mit seiner Tochter auf eine exotische Insel verschlagen worden. Kraft seiner höher entwickelten Intelligenz, seiner Gelehrsamkeit und seines zivilisatorischen Vorsprungs ist es ihm gelungen, den rechtmäßigen Herrscher der Insel, Caliban, von seinem Posten zu verdrängen. Er hat ihn die Sprache der Weißen gelehrt und ihn zu seinem Sklaven gemacht. “Die europäischen Kolonisatoren sahen in den Eingeborenen der ‘Neuen Welt’ sprachenlose Tiere, und Sprache galt ihnen als Kriterium menschlicher Intelligenz”, heißt es in einem Artikel des Programmheftes; “natürlich nur die Sprache der ‘Alten Welt’; die Rede der Eingeborenen war nur ‘Geplapper’”.

Caliban erscheint hier nicht als monströses Zwitterwesen, halb Mensch, halb Tier, sondern als ein in Lumpen gekleideter, seiner Identität beraubter, von seinem weißen Master mißhandelter Neger. Daß auch Ariel, die Rolle des anderen dienstbaren Geistes, den Prospero sich unterworfen hat, von einem Schwarzen gespielt wird, ist bei dieser Auslegung des Stückes eigentlich nur konsequent.

In die steil ansteigende, aus goldgelben Sanddünen und ausgewaschenen Felsen bestehende surrealistische Bühnenlandschaft ist ein etwas schräg sitzender, nach einer Seite hin offener, heller Kubus versenkt, aus dem ein Teleskop herausragt: Properos Zelle. Ein höher gelegener, etwa gleich großer zweiter Kubus wirkt wie ein Tor zum Inneren der Insel oder (für Ariel) ein Fenster in luftige Höhen. Wenn Prospero die in seinen Bannkreis geratene königliche Gesellschaft sonst durch allerlei Hexerei verwirren, täuschen und blenden läßt, sorgen hier ein paar maskierte Eingeborene, die Ariel herangeführt hat und auf einen Wink seines Herrn die Bühne betreten läßt, für die gewünschte Desorientierung. In der von Prospero arrangierten Verlobungszeremonie für seine Tochter Miranda und den Sohn des Königs von Neapel treten drei schwarze Inselschönheiten als griechische Göttinnen auf, die ihre Segenswünsche in Form von Arien im Stil der Barockopern singend überbringen.

Jonathan Millers Inszenierung läßt das Stück klarer und durchsichtiger erscheinen. Einige Szenen, so zum Beispiel der erste Auftritt der königlichen Gesellschaft am Anfang des zweiten Aktes, wo die Repliken teilweise ineinander verfugt sind und der Eindruck entsteht, als seien die Dialoge geradezu nach musikalischen Kriterien erarbeitet worden, wirken plausibler und zugleich komischer, als man sie je gesehen zu haben glaubt.

Was Max von Sydows zunächst etwas hölzern wirkendem Prospero fehlen mag, die gefährliche Faszination des großen Magiers, der auch mit der Macht des poetischen Worts zu verzaubern weiß, gleicht er durch Menschlichkeit aus, die nicht nur im zärtlich liebevollen, behutsamen Umgang mit seiner Tochter, sondern vor allem auch gegen Ende des Stückes hervortritt, wenn er sich aller übernatürlichen Künste entledigt und von Ariel und Caliban fast gerührt Abschied nimmt.

Daß der in die Freiheit entlassene Ariel den von seinem Meister zerbrochenen Zauberstab wieder zusammengefügt und damit Caliban bedroht, die Andeutung vom Entstehen neuer Abhängigkeiten, neuer Ausbeutungsverhältnisse, nun unter Angehörigen derselben Rasse, ist die bitter-ironische Pointe, mit der Jonathan Miller die Aufführung enden läßt.

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