die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1990
Text # 255
Autor Paula Milne
Theater
Titel Earwig
Ensemble/Spielort Royal Shakespeare Company/London
Inszenierung/Regie Ron Daniels
Uraufführung
Sendeinfo 1990.07.14/SWF Kultur aktuell/DLF/RIAS/RB/Nachdruck: Darmstädter Echo

Paula Milnes Schauspiel ‘Earwig’ (Ohrwurm) ist eine Auftragsarbeit der Royal Shakespeare Company. In einer frühen Fassung beginnt das Stück mit drei kurzen prologartigen Szenen, die in der Inszenierung der Uraufführung fehlen. Zwischen Scheinwerfern, Kameras und Monitoren eines verlassenen Fernsehstudios steht ‘die Autorin’. Man hört, was sie denkt: “Eines Tages werde ich ein Stück darüber schreiben. Nicht über die irre Parforcejagd der Produktion eines Fernsehspiels, den Mangel an Zeit und Geld, Zensur und Selbstzensur, und gewiß nicht über die sattsam bekannte Tatsache, wie die Texte der Autoren mißhandelt werden (obwohl ich auch darüber manches Lied zu singen wüßte) ... Nein, ein Stück über Ideen – und wie leicht sie den Institutionen zum Opfer fallen, die sie zu hegen und pflegen behaupten. Weil auch sie, die Instanzen, die darüber entscheiden, in einem weiteren politischen Umfeld Opfer sind ... Hier wird mein Stück spielen. In einem Fernsehstudio. Dem Angelpunkt, wo alles beginnt und alles endet ... Doch wer interessiert sich schon für Ideen, und wie vermittelt man sie? Es sei denn, ich machte daraus eine Komödie. Eine schwarze Komödie!”.

Und dies ist genau, was Paula Milne, die Autorin des Stückes ‘Earwig’, getan hat. Es ist ihr erstes Theaterstück. Davor schrieb sie (neben zwei Filmen) über ein Dutzend Fernsehspiele, war als Fernsehdramaturgin und Mitautorin an der Entstehung zahlreicher britischer Fernsehserien beteiligt und lernte das Medium, seine Schliche und Tücken, in- und auswendig kennen. Paula Milne beschreibt das Milieu, dem sie beruflich jahrelang ausgeliefert war. Und es ist wohl kein Zufall, daß sich das Thema in so engagierter Form nicht zum Fernsehspiel verarbeiten ließ.

‘Earwig’ ist der Name eines Computers, der – ein irrsinniger Gedanke – in einem Bunker im Regent’s Park, dem Zentrum Londons, untergebracht ist, die mutmaßlichen Einschaltquoten der Texte von Fernsehserien berechnet – und damit über Wohl und Wehe der Stücke und ihrer Autoren entscheidet. Was nicht wenigstens zehn, zwölf oder vierzehn Millionen Zuschauer anzulocken verspricht (das sind die wirklichen Einschaltquoten der britischen soap opera-Serien!), hat keine Chance, in Produktion zu gehen.

Thema des Stückes ist der Konflikt, in den ein Autor gerät, der sich den sogenannten Gesetzen des Marktes und den dazu gehörigen politischen Auflagen nicht unterwerfen kann, ohne Schaden zu nehmen an seiner Seele; der politische Überzeugung, moralische Prinzipien, künstlerische Maßstäbe und alle anderen ehrenwerten Kriterien fahren lassen muß, um im Geschäft zu bleiben.

“Ein Schriftsteller ohne politische Moral ist wie ein Soldat ohne Land, ein Söldner”, steht auf einem Plakat über dem Schreibtisch der Schriftstellerin Glynis Knight, die seit ihrer Ehescheidung allein mit ihren beiden Kindern in einer Nordlondoner Wohnung lebt. Ihr Agent drängt sie, ihre idealistischen Skrupel endlich über Bord zu werfen und sich beim Fernsehen um einen Autorenvertrag für die populären soap-opera-Serien zu bewerben, bis die kreative und finanzielle Krise, die sie plagt, überwunden sei und sie sich wieder ernsteren literarischen Aufgaben widmen könne. Um ihren schriftstellerischen Ruf nicht zu gefährden, engagiert Glynis einen Schauspieler, der die Rolle des Autors der Texte übernimmt, die sie in cognito schreiben will. Sie macht ihn zu ihrem Söldner, zieht ihn ins Vertrauen und wird dadurch erpreßbar.

Zudem löst das Manöver nur ihre finanziellen Probleme. Die Verdrängung des literarischen Gewissens schafft ein Schuldbewußtsein, das sich gegen solchen Opportunismus aufbäumt. Um ihren Pseudo-Autor wieder loszuwerden, verpflichtet sie einen neuen (“entschieden links engagiert“ ist die Bedingung), der Autor Nr. 1 Konkurrenz machen soll. Auch dies gelingt, doch der große Erfolg korrumpiert selbst den Mann mit dem linken Gewissen. Um vor dem eigenen Anspruch zu bestehen, muß das Versteckspiel, müssen die faulen Kompromisse ein Ende finden.

Die Geschichte der Glynis Knight (und das erschwert die Aufgabe des Berichterstatters) wird uns als Fiktion einer Fiktion vorgestellt. Denn Glynis ist die literarische Erfindung eines Autors namens Bill, der als Mitglied eines Autorenteams, das die Handlung der Episoden einer Fernsehserie entwickelt, die eigene Korruption zu durchschauen lernt und dann, als das Team aufgelöst wird, weil der Computer Earwig der Geschichte um Glynis die Einschaltquote Null vorausgesagt hat, sie um ihrer selbst, um seiner selbst willen konsequent zuende dichtet.

Was da vor uns abläuft, ist eine doppelte Projektion: die Projektion der von Paula Milne, der Autorin des Stückes ‘Earwig’, selbst erlebten Konflikte in die Figur des Autors Bill, der seine Konflikte in die von ihm erfundene Autorin Glynis projiziert. Was formal so vertrackt erscheint, ist nur die einfache Darstellung eines vertrackten Sachverhaltes. Durch die Beschreibung der Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit gelingt die Befreiung von den Zumutungen des den Gesetzen des Marktes hörigen Betriebs.

‘Earwig’ ist ein brillantes Theaterstück. Es gibt Einblick in die Geheimnisse der Hexenküche des Fernsehens als Medium der Unterhaltungsindustrie. Als einer, der den Inszenierungen klassischer Werke, die die Royal Shakare Company im Laufe der letzten Jahre auf die Bühne brachte, meistens nur wenig abgewinnen konnte, freut und beeindruckt mich immer wieder die Sicherheit, mit der das Ensemble neue Stücke aufzuführen weiß. In Ron Daniels hat Paula Milne einen kongenialen Regisseur gefunden, der die kunstvoll gebaute schwarze Komödie witzig, geistreich und spannend in Szene zu setzen verstanden hat.

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