die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1990
Text # 252
Autor Tony Harrison/Sophokles
Theater
Titel The Trackers of Oxyrhynchus
Ensemble/Spielort Olivier Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie Tony Harrison
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1990.03.29/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR/RB/RIAS 1990.03.30/SRG Basel/Nachdruck: Darmstädter Echo

Zwei junge Archäologen der Universität Oxford, Bernard Grenfell und Arthur Hunt, begannen im Januar 1897 auf einer Müllhalde in der ägyptischen Wüste nahe der ehemaligen Stadt Oxyrhynchus mit Ausgrabungen, die eine Fülle von alten Papyrus-Fragmenten zutage förderten, Bruchstücke von schriftlichen Dokumenten, die in einer Gegend, in der es nie regnet, unter den Hügeln des trockenen Treibsandes sich über zwei Jahrtausende erhalten hatten. Zehn Jahre danach stießen Grenfell und Hunt auf einen ihrer kostbarsten Funde: etwa vierhundert Zeilen eines bis dahin nur dem Titel nach bekannten Satyrspiels von Sophokles. Von dessen 116 Stücken waren nur sieben Tragödien übrig geblieben, keines der 30 Satyrspiele, welche den stets als Trilogie vorgestellten Tragödien folgten und die in ihnen verherrlichten Götter und Heroen schamlos verspotten durften.

Das 1907 entdeckte Satyrspiel mit dem Titel ‘Ichneutai’ (Die Spürhunde) basiert auf der Legende von Hermes, der, kaum geboren, die Rinderherde seines älteren Bruders Apollon stiehlt. Eine Gruppe von Satyrn, bocksgestaltige Waldgeister, spürt den Dieb nach langem Suchen auf. Hermes schenkt Apollon die von ihm aus den Därmen und Hörnern gestohlener Rinder gefertigte Lyra und söhnt sich wieder mit ihm aus.

Der englische Dichter Tony Harrison hat das in Oxford aufbewahrte Fragment des sophokleischen Satyrspiels zum Kernstück eines in Versen geschriebenen neuen Schauspiels gemacht, dessen erste Fassung nur einmal, im Sommer 1988 in dem antiken Stadion von Delphi, aufgeführt wurde und das nun in erweiterter Form auf der großen Arenabühne des Nationaltheaters auch dem Londoner Publikum vorgestellt worden ist.

Auf den Sandhügeln von Oxyrhynchus wühlen ägyptische Arbeiter unter Leitung von Grenfell und Hunt nach alten Papyri und finden statt der erhofften Texte klassischer Literatur fast nur Fetzen von Bittschriften obdachloser Ägypter, schriftliche Hilferufe, die sich über die Jahrhunderte auf der antiken Schutthalde angesammelt haben.

Grenfell hat Halluzinationen, hört schreckliche Stimmen und gerät außer sich. Er bildet sich ein, Apollon zu sein, und sieht seinen Kollegen als Silen, den Anführer einer Truppe wild stampfender Satyrn, die, wie in den derben komischen Spielen der Antike mit Pferdeschwänzen und riesigen Phalloi ausgerüstet, das soeben gefundene Satyrspiel von Sophokles in der für feinere englische Ohren vulgär klingenden Sprache des englischen Nordens, im gereimten Yorkshire-Dialekt, lebendig werden lassen.

Wo der Text des Originals abreißt (bei der Belohnung der Satyrn für die erfolgreiche Jagd), schlägt Tony Harrison die Brücke zur Marsyas-Legende, eine der überlieferten alternativen Versionen zu der gängigen Vorstellung von Apoll als einem edlen, vergeistigten, über alle schnöden Motive erhabenen Gott. Silenus erinnert daran, daß Marsyas für die Untat, bewiesen zu haben, daß auch ein Satyr, also ein in den Augen der Götter und Menschen niedriges Wesen, Athenes Flöte so schön wie der große Apoll seine Leier zu spielen imstande ist, von ihm grausamst bestraft wurde. Ein nicht Privilegierter hatte das Reich der hohen Kunst, eifersüchtig bewachtes Reservat der Elite, zu betreten gewagt und wurde dafür lebendig gehäutet. Anderen Eindringlingen war ein ähnliches Schicksal widerfahren.

Tony Harrison, Altphilologe und einer der wirklichen Poeten seiner Generation, wuchs auf im proletarischen Milieu der nordenglischen Industriestadt Leeds. Als einer, der sich beiden Welten zugehörig fühlt, hat er die Kluft zwischen den Klassen, den Konflikt zwischen den durch Bildung begünstigten Teilhabern an kulturellen Gütern und den geistigen Habenichtsen, wie eine Wunde in sich gefühlt und zeitlebens gegen den gewaltsam behaupteten künstlichen Unterschied zwischen hehrer, elitärer und banaler, niederer Kunst angeschrieben.

In der glänzend choreographierten Inszenierung des Autors erscheinen ‘Die Spürhunde von Oxyrhynchus’ als höchst originelles Theaterstück, geistreich und witzig, stellenweise irrsinnig komisch gereimt, mitunter wüst kalauernd, als ein modernes Satyrspiel in klassischem Gewand. Harrison läßt es auf tragischer Note enden, mit der politischen Botschaft, daß die Satyrn der antiken Spiele in anderer Gestalt noch immer unter uns sind, entrechtet und von uns Bildungsbürgern verachtet wie eh und je, als Bewohner der Pappkartonsiedlungen unter den Themsebrücken, im Schatten der Tempel der hohen Kunst – der Royal Festival Hall, des Royal National Theatre – von wo der ferne Beifall der Kunst Genießenden herüberweht und die Rufe der Bittsteller, die auf den Müllhalden der Zivilisation verkommen, sanft übertönt.

Der alte Silen, der sich der Zerstörungswut frustrierter Graffitisprüher warnend und ohnmächtig klagend entgegenzustellen versucht hat, zerreißt am Ende selbst den kostbaren Papyrus mit den griechischen Schriftzeichen, der als Hintergrundvorhang die Szene begrenzte, und verteilt die Fetzen unter die Obdachlosen, daß sie sich damit bedecken können.

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