die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 314
Kulturpolitik
Sendeinfo 1978.02.24/WDR Kritisches Tagebuch 1978.02.28/SFB Feuilleton 1978.03.03/SWF Funkreport (Zweitfassung)

Man macht sich Sorgen um die Deutschen. Die Überreaktion der deutschen Behörden auf die Morde von Terroristen, die durch tiefgreifende Beeinflussung rechter Presseorgane hervorgerufene Angstneurose in der Bevölkerung, die eilige Verabschiedung neuer Gesetze, welche die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung im Staate garantieren sollen, doch einige der durch die Verfassung geschützten Grundrechte empfindlich beschneiden, die Folgen des sogenannten Berufsverbots – dies alles, vor dem Hintergrund einer neidvoll bewunderten wirtschaftlichen Entwicklung, die die Bundesrepublik zur führenden Großmacht des Kontinents werden ließ, beunruhigt die europäischen Nachbarn. Ihre Sorgen richten sich auf die Frage, ob die Demokratie, jene Staatsform, die die Deutschen nach 1945 gewissermaßen im Schnellkursverfahren einüben mußten, in der Bundesrepublik genügend fest verankert sei.

Wenn die Briten sich neuerlich mehr denn je um die politischen und kulturellen Bedingungen in der Bundesrepublik kümmern, dann gewiß nicht nur wegen eines unausrottbaren Vorurteils gegen die Deutschen. Wenn sie die Verhältnisse kritisch beschreiben, geschieht dies nicht, wie man befürchten könnte, im Ton selbstgefälliger Herablassung. Wer als Deutscher seit Jahren auf der britischen Insel lebt, hat ein wenig gelernt zu verstehen, daß, was den Engländern an uns Deutschen mißfällt – unser lautes, auftrumpfendes Gebaren, unsere Radikalität, unser apodiktisches Reden, unser Mangel an Flexibilität, unser blutiger Ernst und unser Hang zum Perfektionismus – Züge einer Wesensart sind, die nicht nur als solche wenig sympathisch erscheinen, sondern auf andere bedrohlich wirken.

Wie weit eine Gesellschaft demokratisch ist, zeigt sich daran, wie weit sie Kritik ertragen kann und Selbstkritik zuläßt. Ein in der vorletzten Ausgabe der Londoner Wochenzeitung ‘Economist’ veröffentlichter Bericht über die Auswirkungen des Berufsverbots beweist, daß man keineswegs nur in linken Kreisen um deutsche Verhältnisse besorgt ist. “Ist der Staat etwa sicherer, wenn man einen kommunistischen Lokomotivführer entläßt?”, fragt der ‘Economist’ und informiert seine Leser darüber, daß seit Inkrafttreten des Radikalenerlasses über eine Million Bundesbürger vom staatlichen Geheimdienst überprüft und davon über viertausend ihren erlernten Beruf als Lehrer, Sozialarbeiter, Jurist, Ingenieur, Briefträger oder Schaffner nicht oder nicht mehr ausüben dürfen. “Ein Jahr Mitgliedschaft in der (legalen) DKP kann eine Karriere ruinieren. Doch die viel längere und nicht weniger aktive Mitgliedschaft in der rechtsextremen Nationaldemokratischen Partei wird leicht verziehen“, heißt es in dem Kommentar der (wohlgemerkt) konservativen Zeitschrift. “Was werden die Sicherheitsbehörden gegen den Mann unternehmen, der am Grab des Kriegsverbrechers Herbert Kappler mit dem Hitlergruß salutierte?“.

Am selben Wochenende fand in London die erste Konferenz des ‘Nationalen Komitees gegen das Berufsverbot in der Bundesrepublik Deutschland’ statt. Delegierte zahlreicher politischer Organisationen, Gewerkschaften und Hochschulgruppen aus allen Teilen Großbritanniens trafen sich, um über Aktionen zur Aufklärung der britischen Bevölkerung zu beraten. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, daß man nicht die Absicht habe, den westdeutschen Staat zu diffamieren; vielmehr gehe es ausschließlich darum, gegen den Erlaß des Jahres 1972, der für so viele zum Berufsverbot geführt habe, mit allem Nachdruck zu protestieren.

In der von der Konferenz verabschiedeten Resolution heißt es unter anderem: “Das Berufsverbot ist eine gefährliche Form der Gedankenkontrolle, die die politische Diskussion und den Ausdruck politischer Ideen, die dem gesellschaftlichen Status quo kritisch gegenüberstehen, ersticken soll ... Die Konferenz ... ist der Ansicht, daß Versuche, die wesentlichen Grundsätze der Demokratie zu unterminieren, in der gegenwärtigen politischen Atmosphäre auch auf andere Länder der EWG übergreifen könnten“.

Zwei Tage danach schreckte die Zeitung ‘Daily Mail’ ihre Leser mit der Schlagzeile “Die Nazis marschieren wieder!“. Auf dem beigefügten Bild sah man eine Kolonne von Männern mit Stahlhelm, Hakenkreuzfahne und SS-Uniformen, eine Szene vom Totensonntag des vergangenen Jahres im bayerischen Marktheidenfeld. Der Artikel verwies auf das für den Abend angekündigte Programm der BBC-Fernsehensendung ‘Panorama’, einen Filmbericht über Deutschlands ungesühnte Naziverbrechen, der mit den Worten begann: “Jedes Jahr marschieren in Westdeutschland Dutzende ehemaliger SS-Einheiten zu den Schreinen ihrer gefallenen Kameraden ... nicht nur als sentimentale Pilgerfahrt, sondern als politische Demonstration. Sie gehören zu einer wachsenden Bewegung, die nicht nur Deutschlands Geschichte neu schreiben, sondern die kriminelle SS mit Erfolg rehabilitieren möchte”. Der Film brachte Interviews mit Kriegsverbrechern, die nach 1945 in Frankreich in absentia zum Tode oder zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurden, doch dessen ungeachtet seither in der Bundesrepublik ein vergnügliches Leben führen. Er beschrieb die Unfähigkeit der Alliierten, nach dem großen Nürnberger Prozeß auch die vielen für die KZ-Morde hauptverantwortlichen Verbrecher vor Gericht zu stellen und zu bestrafen. Erschreckende Zahlen wurden genannt: Von den etwa 150.000 Massenmördern der SS seien nur etwa ein Fünftel verurteilt worden (die meisten davon übrigens in den Ostblockländern). Die westdeutsche Regierung unter Adenauer habe alles daran gesetzt, die Verfolgung der Nazi-Verbrecher einzustellen und die Inhaftierten wieder freizulassen. Die Amerikaner und Briten hätten diese Bemühungen schließlich unterstützt, weil Westdeutschland inzwischen zum Bollwerk gegen den Kommunismus aufgebaut werden sollte. Ein Beispiel von vielen: Fünfhundert SS-Männer leiteten das Vernichtungslager Majdanek – nur fünfzehn von ihnen wurden angeklagt. Prominente Nazis kamen wieder in höchste Staatsämter und an die Spitzen der wichtigsten Industriebetriebe. Die Behauptung, Deutschland habe nach dem Krieg mit seiner Vergangenheit abgerechnet, wurde als große Lüge entlarvt.

Bernt Engelmann, einer der vielen, die über ihre Ansicht zur Sache befragt wurden, hatte den Mut, die Folgen beim Namen zu nennen :”Viele von denen, die heute als Terroristen auftreten (und, wie ich meine, als Faschisten handeln), sind zu dieser Haltung getrieben worden durch die Vorstellung, daß der Nazismus und seine Verbrechen nicht verfolgt wurden”.

Fazit: Die Regierungen der Bundesrepublik haben die Abrechnung mit den Verbrechen der Nazis bewußt hintertrieben. Die Kritik an dieser Entwicklung und an den heute herrschenden Verhältnissen soll durch immer schärfere Gesetze unterbunden werden. Der auf faulen Fundamenten errichtete Staat wird immer mächtiger, die Grundrechte des Einzelnen werden immer mehr beschnitten.

So jedenfalls sehen es die Nachbarn. Wundern uns da noch ihre Sorgen?

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