die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1991
Text # 261
Autor Marieluise Fleißer
▶ Tonaufnahme/ Theater
Titel Fegefeuer / Pioniere in Ingolstadt
Ensemble/Spielort Gate Theatre/London
Inszenierung/Regie Annie Castledine & Stephen Daldry
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1991.03.03/SWF Kultur aktuell/RIAS 1991.03.07/WDR/SRG Basel (versch. Versionen/teilw. mit O-Ton) 1991.03.21/DS Kultur/Nachdruck: Darmstädter Echo
Tonaufnahme ▶ Originaltonbeitrag

Die britische Erstaufführung der Stücke ‘Fegefeuer’ und ‘Pioniere in Ingolstadt’ von Marieluise Fleißer ist ein theaterhistorisches Ereignis. Es ist die Entdeckung von einer der bedeutendsten deutschen Autorinnen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, einer Dichterin, die in den Zwanzigerjahren für kurze Zeit von sich reden machte, dann lange vergessen war, bis man sich kurz vor ihrem Tod 1974 wieder an sie erinnerte. Daß man nun auch in England die Stücke Marieluise Fleißers erstmals zur Aufführung bringt, sollte für uns kein Anlaß sein für Stolz und Selbstzufriedenheit; auch in ihrer deutschen Heimat hat man die wahre Größe der Fleißer bis heute nicht anerkannt. Der triumphale Erfolg der britischen Erstaufführung ihrer Stücke aber kann – und dafür müssen wir dankbar sein – als ein Teil der Wiedergutmachung verstanden werden, die wir ihr schulden.

Was sich in diesen Tagen und Wochen vor allem im Gate Theatre zuträgt, gibt jedoch auch in anderem Sinne zu denken: als Beweis für die ungebrochene Vitalität des englischen Theaters, genauer gesagt, der Theatermacher, die auch in Zeiten der von einer kunstfeindlichen Regierung verhängten großen Not den Kampf noch lange nicht aufgegeben haben. Denn was hier anläßlich der Erstaufführung der Fleißer-Stücke unter anderswo unvorstellbaren Bedingungen gelang, grenzt schon nachgerade ans Wunderbare.

Das 1979 in einem sechzig Quadratmeter großen Raum im ersten Stock einer Westlondoner Pub eingerichtete Gate Theatre ist eines der kleinen Studiotheater, die vollkommen ohne öffentliche Subventionen arbeiten müssen und darum auf das Wohlwollen privater Gönner angewiesen sind – sowie auf die Selbstlosigkeit, den zu jedem finanziellen Opfer bereiten Idealismus ihres künstlerischen und technischen Personals.

Durch seinen anspruchsvollen Spielplan, die Aufführung von Werken namhafter, doch hierzulande noch unbekannter ausländischer Autoren, und das hohe Niveau seiner Inszenierungen hat sich das kleine Gate Theatre über die Jahre einen Namen gemacht und gilt heute als eines der interessantesten und wagemutigsten Theater der britischen Hauptstadt. Die beiden Fleißer-Premieren gehören zu einer Reihe von Werken bedeutender weiblicher Bühnendichter aus vier Kontinenten, darunter sechs britische Erstaufführungen, die vom 22. Januar bis 1. Juni dieses Jahres unter dem Titel ‘Frauenwelttheater 1991’ im Gate Theatre vorgestellt werden.

Als die Schauspieler sich Mitte Januar zur ersten Leseprobe der Fleißer-Stücke versammelten, wurde ihnen ein Handzettel der Theaterleitung überreicht. Das Schreiben begann mit den Worten: “Willkommen im Gate Theatre! Wir sind alle mächtig aufgeregt, denn es geht um das bislang größte und ehrgeizigste Projekt, an das wir uns je heran gewagt haben”. Am Ende der Mitteilung hieß es: “Wie üblich, sind wir wieder in der schrecklichen Verlegenheit, unsere Schauspieler nicht bezahlen zu können. Wir bedauern dies umso mehr, als dieses Projekt so viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Als kleinen Beitrag zu den Unkosten der an den Aufführungen Beteiligten werden wir jeden Montag die Einnahmen aus dem Kartenverkauf unter den Mitgliedern des Ensembles verteilen”.

Unter der Regie von Annie Castledine und Stephen Daldry, dem künstlerischen Leiter des Gate Theatre, sind in nicht mehr als insgesamt sechs Wochen Probenzeit zwei ungemein dichte, eindringlich poetische Inszenierungen entstanden, die – vor allem unter den gegebenen Bedingungen – höchste Bewunderung verdienen. Sie zeugen für ein erstaunliches Maß an Einfühlungsvermögen in die Fleißerschen Charaktere und ihr geistiges Umfeld, ein Gespür für die atmosphärischen Werte und für die sprachliche Eigenart der Texte.

Ich kann mich nicht erinnern, je eine Aufführung gesehen zu haben, bei der die Möglichkeiten einer aus hohen, teilweise schrägen Podesten zusammengefügten winzigen Bühne für so viele verschiedene Außen- und Innenszenen so ingeniös genutzt worden wäre. Das Spiel der Darsteller ist bis in die kleinsten Rollen hinein so überzeugend und eindrucksvoll, daß es sich auf vielen der großen Bühnen der hoch subventionierten Theater, etwa der Royal Shakespeare Company oder des Nationaltheaters, die die Werke der modernen Klassiker des europäischen Kontinents längst gespielt haben sollten, sehen lassen könnte.

Daß die Stücke der Fleißer nun auch in England aufgeführt (und noch in diesem Jahr hier und in den USA erstmals im Druck erscheinen) werden, ist nicht zuletzt den beiden Damen Tinch Minter und Elisabeth Bond-Pablé, der Ehefrau des Dichters Edward Bond, zu verdanken, die die Texte gemeinsam übersetzt, genauer gesagt, in ein englisch-irisches Idiom übertragen und die Regisseure während der Probenarbeit beraten haben.

Daß man die Dramen der Marieluise Fleißer erst siebzehn Jahre nach dem Tod der Autorin in England zu sehen bekommt – gibt es dafür womöglich auch Gründe, die mit den Texten selbst zu tun haben? Elisabeth Bond-Pablé bestätigt dies. Wegen der Eigenart ihrer Sprache (weder Hochdeutsch, noch Dialekt, noch Stilisierung) habe man die Fleißer zunächst für unübersetzbar gehalten. Man sei bemüht gewesen, für die eigentümliche Syntax der Originaltexte ein englisches Equivalent zu finden, und hoffe, durch Andeutung eines irischen Idioms, die Anspielung auf ein rückständig kleinstädtisch-katholisches Milieu, eine akzeptable Lösung gefunden zu haben.

Die meisten Londoner Kritiker reagierten auf die Premieren der Fleißer-Stücke mit heller Begeisterung. Man sprach von einer “bedeutenden theatralischen Entdeckung“. Es sei nicht auszuschließen, hieß es in der ‘Times’, daß wir die Bedeutung der Schriftstellerin Marieluise Fleißer heute vielleicht noch höher einschätzen würden, wenn sie nicht Schützling, Geliebte und Opfer eines anderen Bühnenautors geworden wäre, “des tyrannischen Brecht”. Denn dieser Umstand, ihre schlimme Ehe und die Ankunft der Nazis hätten sie praktisch von den deutschen Bühnen “verbannt”. Die Aufführungen im Gate Theatre ließen ahnen, daß dies “ein immenser Verlust” gewesen sei.

 

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