die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1985
Text # 208
Autor Athol Fugard
Theater
Titel The Road to Mecca
Ensemble/Spielort Lyttelton Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie Athol Fugard
Hauptdarsteller Yvonne Bryceland/Charlotte Cornwell/Bob Peck
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1985.03.01/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR/SR/ORF Wien/SRG Basel 1985.03.22/SFB (teilw.) Nachdruck: Darmstädter Echo

Athol Fugards neues Stück ‘The Road to Mecca’ (Die Straße nach Mecca) ist dem Leben und Werk der südafrikanischen Bildhauerin Helen Martins gewidmet, die in einem kleinen Dorf der südafrikanischen Wüste lebte und die der Autor durch einen Zufall Mitte der Siebzigerjahre entdeckte, als man von ihrer Existenz noch so gut wie nichts wußte. Den Bewohnern ihres Dorfes schien sie nicht ganz geheuer zu sein; man sprach von ihr wie von einer leicht Verrückten, einer exzentrischen Person, die Skulpturen herstellte, Fabelwesen in Menschen- und Tiergestalt, und damit ihren Garten füllte. Erst nach ihrem Tod entdeckte man, das Helen Martins’ naive Kunst ernst genommen zu werden verdiente.

Fugard geht der Frage nach, was diese Frau, die sich vor den Leuten zurückzog und in einer Phantasiewelt zu wohnen schien, bei ihrem Tun motivierte. Erst während des Schreibens habe er begriffen, teilt Fugard mit, was ihn an dem Stoff so faszinierte: “die Frage nach Ursprung, Wesen und Wirkung kreativer Energie, meiner eigenen“. Und so allmählich und tastend, wie er die Zuschauer im ersten Teil des Stückes an die Personen heranführt, scheint er das Lebenswerk der Helen Martins verstanden zu haben: als Ausdruck eines Akts der Befreiung. Ihre Skulpturen werden zu Sinnbildern einer gelungenen Emanzipation, einer erfolgreichen Flucht aus der bigott-kleinbürgerlichen Enge des Dorfes und seiner Menschen, die Helen, den friedfertigen Freigeist, als Bedrohung empfinden.

Fugards Miss Helen lebt inmitten ihrer selbstgeschaffenen Figuren, Gemälde und Ornamente in ihrem ungewöhnlichen Haus mit seinen Spiegeln und seinen Glitzerwänden und -decken, die das Licht der vielen Kerzen tausendfach brechen und einen künstlichen Sternenhimmel zaubern. Sie war, wie wir hören, einmal verheiratet. Doch erst nach dem frühen Tod ihres ungeliebten Mannes scheint sie ihr eigenes Glück gesucht und gefunden zu haben. Nun aber soll sie aus ihrem Lichterreich vertrieben werden: der Kirchenrat drängt sie, in ein Altersheim zu übersiedeln; sie gefährde sich selbst, wenn sie weiterhin allein lebe. Christliches Verantwortungsgefühl gebiete, für sie Sorge zu tragen.

Elsa, eine junge Englischlehrerin, die auf Helens Hilferuf aus Kapstadt herbeigeeilt ist, durchschaut die Absichten des Kirchenrats als Versuch einer gewaltsamen Teufelsaustreibung. Elsa, die Freundin, und Marius, der Dorfgeistliche, werden zu Gegnern in einem erbitterten Ringen um Helens Seele: Marius möchte sie auf den rechten Pfad der Kirche zurückführen, den Helen vor vielen Jahren verlassen hat, Elsa will, daß sie ihr ‘Mecca’, ihr Reich des Lichts, das sie der Dunkelheit abgetrotzt hat (wie es im symbolgeladener Sprache heißt), gegen den Angriff verteidigt. Sie tut es, und Marius gibt sich geschlagen.

Das Stück endet, emotional ergreifend, auf euphorisch optimistischer Note, mit emphatischem Bekenntnis zum Leben, das lebenswert bleibe durch die Macht der Liebe und des gegenseitigen Vertrauens. Angesichts der Tatsache, daß die wirkliche Helen Martins wenig später mit Selbstmord aus dem Leben schied, ein erstaunlicher Schluß.

Was die Londoner Aufführung unter des Autors eigener Regie zu einem besonderen Ereignis macht, ist die ungewöhnliche Intensität der Darstellung. Yvonne Bryceland als Helen, Charlotte Cornwell als ihre Freundind Elsa und vor allem Bob Peck als der Mann, der Helen aus ihrem Paradies vertreiben möchte und sich, wie es scheint, nicht eingestehen will, daß er sie seit langem insgeheim liebt, sorgen für einen durch seine Menschlichkeit erschütternden Theaterabend.

“Neben Athol Fugard, dem unerbittlichen Chronisten der südafrikanischen Gesellschaft, gibt es einen anderen Fugard”, schrieb der Kritiker der Londoner ‘Times’ nach der Premiere, “einen poetischen Dramatiker, dessen Stücke sich, wie es scheint, mehr aus der Landschaft ergeben als aus den Menschen, die darin leben, einen Dramatiker, der ein rätselhaftes Bild entdeckt, ein Image, dem er nachgeht, ohne danach zu fragen, wohin es ihn führen wird. ‘Die Straße nach Mecca’ ist das Werk eines Dichters”.

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