die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1980
Text # 324
Autor William Shakespeare u.a.
Theater/ Kulturpolitik
Titel The Booke of Thomas More
Sendeinfo 1980.07.17/ORF WIen 1980.07.18/SR 1980.07.21/SWF Kultur aktuell/RB/SRG Basel 1980.07.23/Darmstädter Echo

Die Jahrhunderte alte Frage ‘Wer schrieb Shakespeares Stücke?’ hat eine neue Variante gefunden durch die sensationelle Meldung, man habe den eindeutigen Beweis erbracht, daß das unter dem Titel ‘The Booke of Thomas More’ bekannte Stück nicht, wie bisher angenommen, von dem Autorenteam Anthony Munday, Henry Chettle, Thomas Dekker und anderen stamme, sondern von keinem Geringeren als William Shakespeare. Das um das Jahr 1590 entstandene, spät entdeckte und selten gespielte Werk enthält einige Passagen, die man schon lange für “Shakepeareverdächtig” hielt. Dazu gehört eine sehr eindrucksvolle Rede, in welcher Thomas Morus das Volk ermahnt, nicht gegen den König zu rebellieren. Der Gedanke, daß Shakespeare als Autor des in seiner literarischen Qualität höchst uneinheitlichen Stückes beteiligt gewesen sei, kam bereits auf in den 1870er Jahren und wurde 1916 bestätigt, als der Shakespeare-Forscher Sir Edward Maunde Thompson herausfand, daß 164 Zeilen des im Britischen Museum aufbewahrten Manuskriptes, in dem sich sechs verschiedene Handschriften nachweisen lassen, mit größter Wahrscheinlichkeit von William Shakespeare selbst niedergeschrieben worden seien.

Die Londoner Sonntagszeitung ‘Observer’ brachte am 6. Juli dieses Jahres einen Artikel, der mit Stolz verkündete, Thomas Merriam, ein Lektor am technischen College in Basingstoke, habe mit Hilfe eines Computers Stilanalysen durchgeführt, die bewiesen hätten, das ‘Thomas More’ nur einen einzigen Autor habe, nämlich William Shakespeare.

Die angewandte Methode der Textanalyse untersucht “unbewußte Sprachgewohnheiten” und vergleicht die Häufigkeit einfacher Wortkombinationen wie “zu sein”, “als ob” oder “in dem” sowie die Häufigkeit von Sätzen, die mit bestimmten Elementarwörtern wie “und”, “aber”, “in” beginnen. Die in der Abteilung Computer-Wissenschaften der Universität Edinburgh entwickelte Methode erhebt den Anspruch, eine Art literarischen Fingerabdruck nachweisen zu können, der es erlaube, die Autorenschaft eines Textes mit unfehlbarer Sicherheit zu bestimmen.

Wie nicht anders zu erwarten, waren die Reaktionen auf die sensationelle Nachricht sehr verschieden. Inzwischen hat sich eine Kontroverse entwickelt, die in den Kreisen der Shakespeare-Forschung noch einige Zeit andauern dürfte. Ein Teil der Fachgelehrten gratuliert dem Kollegen zu dem erstaunlichen Erfolg, während die übrigen ziemlich unverblümt zu verstehen gaben, daß sie von den “Beweisen” rein gar nichts halten.

Merriams Untersuchung benutzt die Ergebnisse von Analysen, die an der Universität Edinburgh durchgeführt wurden und sich auf die Stücke ‘Julius Cäsar’, ‘Titus Andronicus’ und ‘Pericles’ beziehen. Bei einem Vergleich der Daten mit denen des ‘Thomas More’ zeigten sich verblüffende Übereinstimmungen, die Merriam davon überzeugten, daß auch dieses Stück von Shakespeare sein müsse.

Der Haupteinwand gegen Merriams große Entdeckung läuft auf die Feststellung hinaus, daß die Autorenschaft der zum Vergleich herangezogenen Werke selbst nicht unumstritten sei und die angewandte Computer-Analyse von vielen Sprachwissenschaftlern noch nicht anerkannt werde.

Die beste Version des ‘Julius Cäsar’ sei ein Text, der erst sechs Jahre nach Shakespeares Tod geschrieben wurde; viele Gelehrte seien der Ansicht, daß zumindest die ersten beiden Akte von ‘Pericles’ nicht von Shakespeare selbst stammten; und ‘Titus Andronicus’ sei schon seit je bezweifelt worden. Im übrigen sei das ‘Thomas-Morus’-Stück mit Ausnahme weniger Passagen so schwach, daß dies allein schon gegen Merriams These spreche. Hinter den sachlichen Argumenten in diesem Streit der Gelehrten steht natürlich die uralte Kontroverse um Möglichkeit und Grenzen positivistischer Untersuchungsmethoden im Bereich der Geisteswissenschaften.

Aus der Heftigkeit einiger Reaktionen spricht die Animosität der Positivismus-Gegner, die sich selbst den begrenzten Möglichkeiten der Auszählmaschinen gegenüber verschließen, obwohl deren Nützlichkeit für derart statistische Erhebungen gar nicht geleugnet werden kann. Die Universität Edinburgh ist zur Zeit bemüht, die Ergebnisse der Computer-Analysen zu überprüfen. Wenn dabei herauskommen sollte, daß wir es wirklich mit einem ‘neuen Shakespeare’ zu tun haben, ist damit zu rechnen, daß ‘The Booke of Thomas More’ bald an verschiedenen Theatern zur Aufführung kommen wird. Daß der Nachweis über die Autorenschaft eines Stückes dessen literarische Qualität nicht verändert, ein Stück dadurch nicht besser wird, daß es nachgewiesenermaßen von William Shakespeare stammt, macht die Kontroverse zu einem Streit um des Kaisers Bart.

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