die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1975
Text # 90
Autor Howard Barker
Theater
Titel Stripwell
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Chris Parr
Hauptdarsteller Michael Hordern/Constance Cummings
Uraufführung
Sendeinfo 1975.10.16/SWF Kultur aktuell/WDR/ORF Wien Nachdruck: Darmstädter Echo/National-Zeitung Basel

Howard Barkers Stück ‘Stripwell’, soeben uraufgeführt im Royal Court Theatre, handelt von einem sechzigjährigen Richter, der durch die Begegnung mit einer intellektuellen Gogo-Tänzerin, in die er sich verliebt, gewahr wird, daß sein bisheriges Leben falsch und verlogen war, und darum beschließt, es radikal zu ändern. Doch der Versuch, dem Milieu zu entfliehen, in welchem faule Kompromisse, Lüge, Täuschung und Heuchelei zur Norm gehören, kommt zu spät. Als ihn die Geliebte, mit der er leben wollte, verläßt, um mit seinem Sohn, einem blasierten Taugenichts, der durch Heroinschmuggel en gros schnell zu Reichtum gelangen möchte, auf Elefantenjagd zu gehen, gerät Stripwells Anspruch auf moralischer Kompromißlosigkeit gefährlich ins Wanken. Bevor wir erfahren, ob er sich schließlich doch aus den Fesseln gutbürgerlicher Unmoral lösen kann oder endgültig darin gefangen bleiben wird, erscheint ein junger Mann auf der Szene, den er wegen eines Amoklaufs mit dem Auto zu einem Jahr Gefängnis verurteilte und der ihn dafür nach der Entlassung umzubringen schwor, und bereitet dem armen Richter ein trauriges Ende.

Die Ansätze zu einer gesellschaftskritischen Farce über die Fragwürdigkeit der Kriterien der Rechtsprechung, der bürgerlichen Moral, der konventionellen Ehe, über Kompromißbereitschaft und Unfähigkeit zur revolutionären Tat als Ausdruck einer nationalen britischen Krankheit werden vom Autor nicht ausgeführt. ‘Stripwell’ muß mit blutiger Pointe enden, damit keinem entgehe, daß Howard Barker es böse mit uns meint.

Was dabei herauskommt, ist eine melodramatische Melange aus Scherz, Satire, Karikatur und tief verstandener Bedeutung, bei der am Ende viele Fragen und Zweifel über den Standpunkt des Autors und die Tendenz seiner Attacke offen bleiben. Da Chris Parrs phantasielose Inszenierung wenig zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse beiträgt und sich im wesentlichen auf die schauspielerische Routine seiner erfahrenen Protagonisten verläßt – Michael Hordern in der Titelrolle, Constance Cummings als seine langweilig-seriöse Ehefrau und Patricia Quinn als deren kalt kalkulierende Rivalin – gehört einiges Wohlwollen dazu, die Unwahrscheinlichkeiten der Handlung und die Irrealität der Stripwell umgebenden Klischeefiguren als Stilmittel der “Verfremdung” zu verstehen oder (wie ein anderer Kritiker) die Ungereimtheiten “faszinierend” zu finden, weil sie Barkers “geheime Sympathie“ beweise “mit denen, die er verdammt”.

Mit ‘Stripwell’ bleibt Howard Barker beim Thema seiner früheren Stücke: Es geht um die Denunziation einer Gesellschaft, deren doppelzüngige Moral die Unmoral ist; um die Erkenntnis, daß Opportunismus und Kompromißbereitschaft den Verfall der Machtstrukturen nicht aufhalten, vielmehr eine Gegengewalt auf den Plan rufen, die, wenn ihre Stunde gekommen ist, gnadenlos zuschlagen wird.

Mit der Wahl seiner Themen und Motive steht Barker den Autoren um Portable Theatre – Howard Brenton, David Hare und Snoo Wilson – nahe, denen ein ”exzessives Interesse an kriminellen Gewaltakten” nachgesagt wird, die sie als apokalyptische Signale des Untergangs unserer kapitalistischen Weltordnung verstehen. Doch im Unterschied zu Brenton und Hare, deren beste Texte sich durch gedankliche Klarheit, Geradlinigkeit und politische Simplizität auszeichnen, überwuchert Barkers blühende Phantasie das gedankliche Konzept, bis sich, wie in diesem Fall, kaum mehr ausmachen läßt, worauf es uns ankommen soll.

Die Meinung der Londoner Kritiker war dementsprechend geteilt: “‘Stripwell’ ist eine faszinierende Studie über die Natur der Gerechtigkeit“, hieß es in der ‘Financial Times’. Der ‘Guardian’ sprach von einem “hypnotischen Abend”: “‘Stripwell’ hat alle Qualitäten, die man von dem Stück eines britischen Autor unter 30 erwartet”. – “Anleihen aus Stücken anderer Leute genügen nicht”, kritisierte die ‘Times’. Und Milton Shulman befand im ‘Evening Standard’: “Ein uneinheitliches, pretentiöses Moralitätenschauspiel”.

 

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