die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 127
Autor Pip Simmons
Theater
Titel The Tempest
Ensemble/Spielort Pip Simmons Theatre Group/Riverside Studios/London
Inszenierung/Regie Pip Simmons
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1978.05.10/SWF Kultur aktuell/RB 1978.05.12/WDR/Nachdruck: Darmstädter Echo

Die Pip Simmons Theatre Group, eine der besten, aktivsten und einflußreichsten der sogenannten Fringe Theatre Groups, jener kleinen experimentellen Ensembles am Rande der Londoner Theaterszene, feiert ihr zehnjähriges Bestehen mit der Erstaufführung einer Bearbeitung von Shakespeares ‘Sturm’, vorgestellt in den Riverside Studios, die immer mehr werden, was sie bei ihrer Eröffnung vor einigen Monaten zu werden versprachen: ein Treffpunkt der Künste.

Was die Pip Simmons Theatre Group vor fast allen anderen Gruppen in England auszeichnete, war die Vehemenz ihres politischen Engagements, ihr Formgefühl, ihr artistisches Können, die bewundernswert präzise Darstellungstechnik und außergewöhnliche Musikalität. Ihre ‘Superman’-Show, mit der die Gruppe bei den Festspielen in Edinburgh 1969 erstmals Schlagzeilen machte, wirkte wie eine Synthese aus mittelalterlichem Moralitätenspiel und Strip-Cartoon. Die Verwendung von Schwellkopfmasken unterstrich den grotesken Bewegungsstil, Rock-Musik und tanzpantomimische Ausdrucksmittel, die emphatische Geste dominierten über den gesprochenen Text. ‘Do it - Szenen von der Revolution’ zeigte die Gruppe bereits auf dem Höhepunkt ihres Könnens. Es war der Aufruf zu einer Revolte gegen Obrigkeit, gegen Rassismus und Unmenschlichkeit, gegen Polizeiterror und Philisterei – für die Befreiung von allen lustfeindlichen Tabus. ‘The George Jackson Black and White Minstrel Show’ machte die lange Tradition der Ausbeutung der Schwarzen zum zentralen Thema. ‘An die Musik’, die nach ihrem künstlerischen Gehalt bedeutendste Inszenierung der Pip Simmons Theatre Group, war ein erschütterndes Requiem auf die in deutschen Konzentrationslagern ermordeten Juden, ein unendlich böses, entsetzliches Schauspiel von Greueln, die Menschen an Menschen begehen. ‘Der Traum eines Lächerlichen’ entwarf dagegen, nicht ohne Ironie, ein paradiesisches Jenseits der Angst und Not, die in diesem Fall irreale Utopie irdischen Glücks.

Die neue Bearbeitung von Shakespeares berühmtem Märchendrama ‘Der Sturm’ muß als Versuch eines Übergangs verstanden werden. Man ahnt, daß die Motive Sklaverei, Magie und Erlösung in Shakespeares poetischem Schauspiel den theatralischen Zaubermeister Pip Simmons auf den Gedanken brachten, den (nach den Worten des jungen Brecht) Materialwert des Stückes auszubeuten und dabei nach eigenem Gutdünken umzufunktionieren.

Versuche dieser Art sind nicht neu. Charles Marowitz, der langjährige Leiter des renommierten Open Space Theatre, hat mit seinen radikalen Shakespeare-Bearbeitungen internationales Aufsehen erregt. Weil er die repetitiven Klassikerinszenierungen für sinnlos hielt, versuchte Marowitz, die Originale gegen den Strich zu bürsten. Durch rigorose Beschneidung, Umstellung der Szenenfolge, Vertauschen der Texte und Konzentration auf ein einziges Thema der Handlung, das nach verständlicher Logik ohne Umschweife durchgeführt wird, verkehrte er die Moral der Stücke nicht selten ins Gegenteil. Die komplexe Struktur der Originalwerke ging verloren, doch dafür tauchten neue Motivzusammenhänge, neue Konstellationen auf – ein Verfahren, das gelegentlich, wie im Falle der ‘Widerspenstigen’, zu schlichtweg genialen, höchst eindrucksvollen Lösungen führte.

Pip Simmons hat sich ein paar Tonnen Seesand anfahren lassen und damit den Bühnenboden des Studiotheaters belegt. Prospero thront wie Robinson Crusoe zwischen Gerümpel und schuppenartigen Verschlägen erhöht im Hintergrund und inszeniert mit Trommeln und elektronischen Instrumenten sein magisches Donnerwetter, das den durch seine Zauberei zu Schiffbruch und unsanfter Landung getriebenen König Gonzo (eine Mixtur aus den Figuren Alonso und Gonzales) und seine Begleiter verwirrt und zu den aberwitzigsten Handlungen veranlaßt. Wie seinerzeit bei Marowitz ist der Text des Originals radikal verkürzt und umgestellt worden; einzelne Zeilen werden aus dem Kontext herausgelöst und als Überleitung zu Liedern gebraucht, deren zarte Melodien etwas von der Märchenstimmung des Originalwerks erhalten, das im übrigen sonst nicht mehr zu erkennen ist.

Marowitz ging davon aus, daß die Stücke Shakespeares verborgene Wahrheiten enthielten, die es freizulegen galt. Pip Simmons’ Verfahren wirkt dagegen (was man früher wohl kaum für möglich gehalten hätte) geradezu barbarisch, weil es auf nichts anderes als Zerstörung hinzuarbeiten scheint. Einzig in der Figur des mißhandelten Sklaven Caliban und in einigen lyrisch-musikalischen Passagen ist noch etwas zu erkennen von der theatralischen Kraft und Poesie, für die die Pip Simmons Theatre Group berühmt wurde. Die Inszenierung wirkt chaotisch, wie eine allzu leichtfertige Parodie, die sich vom Parodierten selbst unendlich weit entfernt hat, doch als Struktur keinen neuen Sinnzusammenhang herstellt.

Daß die Pip Simmons Theatre Group sich mit dem einmal Erreichten nicht zufrieden gibt und sich auf die Risiken radikaler Experimente, die manchmal völlig mißraten können, überhaupt noch einläßt, muß uns ein wenig trösten und selbst gegenüber einem so eklatanten Versagen versöhnlich stimmen.

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